Franz Lindenmayr / Mensch und Höhle
Eleusis - am Eingang zur Unterwelt
Im Südwesten von Athen liegt ein Ort, der heute durch die vielen Industrieansiedlungen ziemlich unansehnlich gemacht worden ist. Fährt man hin, dann grüßen einen erst einmal Schornsteine und Lagerhallen. Und irgendwo dazwischen gibt es einen archäologischen Bezirk, wo es auch für den "Touristen" etwas zu sehen gibt, nur zu vorgegebenen Zeiten und nur nach Einhaltung des modernen Eingangsrituals - Geldbeutel raus, Geld hingezählt, Billet zurück. Dann darf man das heilige Gelände betreten, aber muß auch spätestens wieder zu den vorgeschriebenen Zeiten wieder heraus. Kein Wunder, daß wir unter solchen Vorzeichen allen Respekt und jeden Glauben an irgend etwas Über- oder Unterirdisches verlieren. Schließlich haben "wir" doch alles im Griff - meinen "wir". Jedenfalls die, die die "Macht" ausüben. "Wildes Verhalten" scheint es da nicht mehr zu geben, zum Beispiel nachts über den Zaun klettern und einfach so, unbeachtet von allen Wärtern, die antike Stätte zu besuchen. Vielleicht wirkt in der Nacht heutzutage der Ort viel stärker auf einen, vielleicht hat sich das "Geheimnis" heute ins Dunkel verzogen, damit all die Häßlichkeit des modernen Alltags nicht so zu sehen ist. Verstehen könnte ich so etwas.
Eleusis - heute so ein kleiner, ziemlich unspektakulärer Ort, an dem wohl die meisten Touristen vorbeiziehen, zu den auch heute noch wirklich großen und zutiefst eindrucksvollen Stätten Griechenlands, wie Delphi, Kap Sunion oder Bassae. Mich interessiert hier nur der Bezug zur "Unterwelt" - die Schlüsselstelle für seine Bedeutung. Er liegt im "Plutonium" im Demeter-Heiligtum, einem Bereich der nach Stuart Rossiter 2000 Jahre lang einen Bezirk bezeichnet hat, der nur von Personen betreten werden durfte, die "initiiert" waren. Allen anderen drohte die Todesstrafe oder ewige Verdammnis. Dieses Plutonium ist eine kleine Höhle, die eher breit als lang ist, einfach ein kleiner Felsüberhang. Besucht man diesen Ort, wie ich es 1974 gemacht habe, dann kann man eigentlich nur ernüchtert werden. Viel ist da nicht mehr zu sehen.
Die Besondere dieses Ortes sind die Geschichten, die man sich davon erzählt. Was soll dort passiert sein? Im Grunde sind es zwei Geschichten - das, was sie Götter, und das, die Menschen dort gemacht haben sollen.
Es lohnt sich, die gleiche Geschichte in den
vielen Gewändern, die man ihr angelegt hat, einmal zu
vergleichen. Besonders einfach und harmlos klingt sie in den
"Griechischen Sagen" von Gustav Schwab,
"bearbeitet und ergänzt von Richard Carstensen":
"Als sie (Persephone) in ungetrübter Jugendlust auf den
blühenden Fluren der Mutter Demeter spielte und Blumen zum
Kranze pflückte, klaffte plötzlich neben ihr der Erdboden.
Hades, der Gott der Unterwelt, der wegen seines Reichtums im
Schoße der Erde auf Pluton genannt wird, sprengte mit
rossebespanntem Wagen aus seinem Reiche hervor. Vergeblich schrie
Persephone nach Rettung; der Gott entführte sie gewaltsam in die
dunkle Unterwelt und machte sie dort zu seiner Gemahlin."
(dtv 13).
Was hier als völlig entschärfte Jugendversion steht, ist im
Grunde eine wüste Inzeststory, der an Dramatik nichts fehlt.
Vater, Mutter, 4 Kinder, drei Buben, 1 Mädchen. Bruder 1 vögelt
Schwester, was Folgen hat > Tochter Persephone, Bruder 2
vögelt auch die selbe Schwester > noch eine Tochter,
"deren Namen außerhalb der Mysterien zu nennen nicht
erlaubt war" + 1 Ross (Arion mit der schwarzen Mähne). Der
dritte Bruder verhandelt mit Bruder 1, ob nicht wenigstens die
Tochter aus der Beziehung zwischen ihm und der Schwester haben
könnte, als Frau. Bruder 1 stimmt sofort zu und so holt sich
halt Bruder 3 auf seinem "rossebespannten Wagen"
schnell die Tochter vom Bruder, die er mit seiner Schwester
gezeugt hat.
Versteht jemand nicht, wovon gerade die Rede ist? Bruder 1 ist
"Göttervater" Zeus, die Schwester ist Demeter, Bruder
2 ist Poseidon, der Gott des Meeres, Bruder 3, Hades, ist Gott
der "Unterwelt".
Als dann die Mutter der Tochter mitbekommt, daß ihre Tochter verschwunden ist, macht sie sich auf, sie zu suchen. Alle verleugnen erst einmal, von irgend etwas zu wissen, oder wissen halt einfach nichts. Nur zwei Wesen sollen wirklich ja Zeugen der Entführung gewesen sein, Hekate und Helios. Irgendwann kam sie dann nach Eleusis, unerkenntlich als Göttin, nur als alte Frau, die an einem Brunnen sitzend, schließlich die Amme für den "unerwarteten" künftigen Königssohn von Keleos, dem damaligen Herrscher, dort, werdend. Der Junge bedeiht prächtigst, schließlich will die Göttin aus ihm einen "Unsterblichen" machen. Ihm ging es vermutlich recht gut - immer zwischen Brust und Schoß der Amme. In solchen Situationen ist die Katastrophe nicht weit - hier in Gestalt der eifersüchtigen Mutter. Sie hatte die Amme ausgespäht "und gesehen, was mit dem Kind geschah. Sie schrie auf, schlug vor Schreck mit beiden Händen auf die Schenkel und brach in lautes Wehklagen aus: "Mein Sohn, Demophoon, dich läßt die Fremde im großen Feuer vergehen, und mich stürzt sie in Trauer." (Kerenyi 1987). Solcher Aufruhr verkehrte alles bzw. rückte alles wieder "zurecht". Die Göttin / nicht "Gattin" zeigte sich endlich als solche, verlangte den Bau eines eigenen Tempels für sie, was auch gleich geschah.
Dort soll sie dann gelebt haben, nicht mehr bei
den anderen Göttern auf dem Olymp, für sich. Zurückgezogen...
auch von den eigenen Brüdern, die ja ein höchst intimes
Verhältnis mit ihnen gehabt hatten... so wenigstens die
mythologischen Erzählungen.
Das bekam der Erde und damit auch den Menschen überhaupt nicht
gut.... die Erde trocknete langsam aus, ernten war nicht mehr
möglich, weil die Samen nicht mehr aufgingen..... es gab wohl
Aufruhr....... die alten "Erfolgsrezepte" stimmten
nicht mehr. Die "old economy" war am Ende. Der
"Verkauf" der eigenen Tochter an den eigenen Bruder war
kein Erfolgsmodell. Der Vater, Ursache der "troubles",
Zeus, mußte dazu bewogen werden, daß er etwas tat, das die
unguten Folgen seiner ... Taten wieder irgendwie in Ordnung
brachte. Man sandte den Götterboten Hermes los und...........
Die Fortsetzung der Geschichte kann jeder in den
unter den Literaturquellen angegebenen Stellen vielleicht ein
bißchen nachvollziehen. Es gibt nicht nur eine
Fortsetzung........... Und es gibt nicht nur "eine
Geschichte". Schauen wir heute auf diese uralte Geschichte,
dann können wir eigentlich nur sehen, daß es nicht nur
"eine Geschichte" und "eine Fortsetzung"
gibt, das war das Paradigma, das man "uns" noch
einzutrichtern in den Schulen gewillt war, sondern daß es nur
"Geschichten" und "Fortsetzungen" gibt,
wodurch im Grunde nur noch multidimensionale
"Netzwerke", wenn es gut geht, entstehen.
Hinterher bin ich immer "gescheiter".
Den Zeugnissen der mit den Einweihungen offenbar
Zusammengekommenen nach muß der Weg nach Eleusis ein sehr tiefgehender gewesen
sein. Von Pindar, einem berühmten Dichter, sind die Sätze überliefert: "Selig,
wer jenes geschaut hat und so unter die Erde geht! Er kennt das Ende des Lebens!
Er kennt auch den Anfang!" Und von Sophokles sind die Zeilen überliefert:
"Dreimal selig die Sterblichen, die diese Weihen geschaut haben und so in den
Hades kommen; für sie allein gibt es dort Leben; für die anderen hat er alles
Unheil."
Was hat man da "geschaut"? Genau das ist das große "Geheimnis", das niemand
verraten durfte, um nicht seiner Wirkung verlustig zu gehen. Das führte
natürlich zu Spekulationen, die von einer Kornähre als Symbol von Fruchtbarkeit
bis "zu Sex in unterirdischen Gängen" reichte. Besonders frühchristliche Autoren
haben sich darüber ausgelassen (Vasek, S. 32ff.).
"Die Teilnehmer des Dionysos-Kultes gerieten in Ekstase dank eines Zusammenwirkens von Rauschmitteln (hauptsächlich aus Gewürzwein und Fliegenpilzen), Musik und Tanz.." Karahasan, Stille Ekstase 226
Ein horizonaler Blick auf den Eingang in die Unterwelt | |
Ein Blick aus der Vogelperspektive |
|
Der Raub der Persephone durch Hades - in einer barocken Bildversion |
Literatur:
Burkert, Walter | Homo Necans |
Giebel, Marion | Das Geheimnis der Mysterien - Antike Kulte in Griechenland, Rom und Ägypten, Neuauflage, Düsseldorf, Zürich 2000 |
Karahasan, Dzevad | Stille Ekstase, in: Warum Lesen – Mindestens 24 Gründe, Bibliothek Suhrkamp, Berlin, 2. Auflage 2020 |
Kerényi, Karl | Die Mythologie der Griechen, Band I: Die Götter- und Menschheitsgeschichten, dtv, München 1966 |
Latzke, Hans E., Höcker, Christopf (Dt. Textfassung) | Griechenland - Attika und Peloponnes, DuMont Visuell, Köln, 1994 |
Mertz, Bernd A. | MAGISCH REISEN - Griechenland, Goldmann-Verlag, München 1991 |
Rossiter, Stuart | GREECE, THE BLUE GUIDE, SECOND EDITION 1973 |
Schmitter, Niccolo | Göttliche Ekstase, SZ Nr. 196, 26./27.08.2023, S. 51 |
Schwab, Gustav, ergänzt von Richard Carstensen | Griechische Sagen, dtv-Verlag, 21. Auflage, München 1997 |
Uxkull, Woldemar von | Die Eleusinischen Mysterien, Büdingen-Gettenbach 1957 |
Valentina Hinz | Der Kult von Demeter und Kore auf Sizilien und in der Magna Graecia, Serie Palila, 4, Deutsches Archäologisches Institut in Rom, Dr. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden 1998 |
Vasek, Thomas | Seele. Eine unsterbliche Idee, Ludwig-Verlag, München 2010 |
Voigt, Ziriah | "Ritualtänze" |
Weltzien, Diane von | Praxisbuch der Rituale, Goldmann-Verlag, München 1997 |
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