Franz Lindenmayr / Mensch und Höhle

Langzeitaufenthalte in Höhlen


Es gab mal eine Zeit, da erfuhr man andauernd von Menschen, die sich für immer längere Zeit in Höhlen zurückgezogen haben, um dort zu bleiben. Das hat sich inzwischen totgelaufen, weil die Gelegenheit, einer Rekord in dieser Disziplin aufzustellen, inzwischen schon so lange geworden ist, daß es wahrscheinlich wird, daß derjenige dann fast schon vergessen ist. Anfangs wurde das mit Experimenten begründet, die notwendig seien, um die Bedingungen für lange Weltraumflüge besser kennenzulernen. Dann wurde daraus ein Selbstläufer.

Einige Versuche:

1922   Colossal Cave/Arizona - Forschung dauerte 6 Tage und 7 Näche am Stück in der Höhle (Folsom 133)  
1938   Daueraufenthalt von 33 Tagen in der Mammoth Cave, Kentucky, USA, von Professor Nathaniel Kleitmann, zur Erforschung des Körperrhythmus 35 Tage wurden auch als Dauer angegeben. Lindenmayr, Altert man langsamer? 134
    6monatiger Aufenthalt von Jean-Marie Mairetet im Aven Olivier in Frankreich unter der Aufsicht von Michel Siffre 
unter dem Titel "Beyond Time"
  
1962 16. Juli - 14. September Michel Siffre, erster Langzeithöhlenaufenthalt von 62 Tagen im Gouffre de Scarasson  Lindenmayr, Altert man langsamer? 135
1963 Geoff Workman hielt sich 105 Tage in der Stump Cross Cavern auf, damals Weltrekord Oldham, Discovering Caves 46
1967 14. Dezember - Maurizio Montalbini verbrachte 210 Tage in einer Höhle in Italien  
1969 24. Juni - 30. September Milutin Veljkovic bleibt 463 Tage in der Samarhöhle, Südostserbien / Weltrekord im Daueraufenthalt in einer Höhle  Veljkovich, Milutin
1972   Midnight Cave, USA, Michel Siffre im Auftrag der NASA 7 Monate dort  Lindenmayr, Altert man langsamer? 135
1977 Velkjovic bleibt 730 in der Höhle
1980 28. Juni - 29. Juni Angerloch am Walchensee, Solotour in das Angerloch am Walchensee Deubner, C., Das Höhlen-Experiment, Der Schlaz 33-1981, S. 11ff.
1986 Mitte Dezember bis 12. Juli 1987 Maurizio Montalbini bleibt ein halbes Jahr in einer 50 m tiefen Schachthöhle bei Ascona  
1988   Langzeitaufenthaltsversuch einer Gruppe von 14 Höhlenforschern in einer italienischen Höhle, Leiter Maurizio Montalbini  
1988 10. August - 29. November 110tägiger Aufenthalt im Aven Valat-Nègre bei Millau/Südfrankreich durch Véronique LeGuen  
1989 Lost Cave im Carlsbad Caverns NP / Stefania Follini verbrachte 4 Monate in der Höhle für Isolationsversuche im Auftrag der italienischen Firma Project Fortiera Donna https://www.nytimes.com/1989/05/17/us/isolation-researcher-loses-track-of-time-in-cave.html
1993 Maurizio Montalbini hält sich 1 Jahr in einer Höhle auf
1994 27. Juli -  Cristine Lanzoni beginnt einen Langzeitversuch in der grotte de Frasassi
1999 30. November - 14. Februar 2000 Grotte de Clamouse, F - Michel Siffre war die Versuchsperson  
2021 40 Tage In der Höhle von Lombrives, Ariège, F, 15 Experimentteilnehmer Neues vom Menschenaffen, SZ Nr. 96, 27.04.2021, S. 8
https://www.badische-zeitung.de/vierzehn-menschen-wollen-40-tage-in-hoehle-leben--200608985.html
2023

Ein Film

"TIME" Florence Tran (Frankreich)
Französisch mit englischen Untertitel, 52 min
Zwei Monate verbrachte Michel Siffre 1962 unter der Erdoberfläche ohne jegliche zeitliche Anhaltspunkte und entdeckte so die „innere Uhr“. Seine Experimente begründeten eine neue Wissenschaft, die Chronobiologie. Nach über 40 Jahren steigt er nochmals in jene Höhle hinab und führt uns vor Augen, welche Auswirkungen das absolute Fehlen von Zeitbezügen auf die Abläufe in unserem Körper und auf unseren Geisteszustand hat

Gezeigt auf dem Filmfestival Graz 2007

-

Ein bemerkenswerter Moment beim Aufenthalt von Véronique LeGuen in der Höhle: Die Mannschaft oberhalb der Höhle hat Probleme mit den Resultaten von unten: "Du machst uns Probleme mit deinen Siestas." Die passen nämlich nicht in das Analyseschema. Da gibt es nämlich nur Schlaf und Wachsein. Man will Resultate, eindeutige. Aber das tatsächliche Leben läuft eben anders. Siestas bedeuten, "da ist keine schön eindeutige Nacht, in der man schläft, sobald man das Licht ausgemacht hat, und in der man das Licht einschaltet, wenn man wach ist." Gewünscht wäre die Bestätigung eines "geregelten Lebens zwischen Wachen und Schlafen". Aber so ist es nicht. Auch hier gibt es mindestens einen dritten Zustand. Um "Eindeutigkeit" herzustellen, wurde vereinbart, das Licht anzumachen, wenn man wach ist, und es zu löschen, wenn man schläft. So ist es aber nicht: "Wenn ich das Licht ausmache, schlafe ich irgendwie und wache 56mal in der Nacht auf, und ebenso kann ich bei Licht an einem Stück tief schlafen."
Klarsichtig schreibt Véronique dazu: "Außerdem wäre es Aufgabe der Wissenschaft, sich ihren Studienobjekten anzupassen, und nicht meine, mich in vorgefertigte Tabellen einzufügen, verdammt und zugenäht." So ist das wohl auch in vielen anderen Lebensbereichen, die schon "wissenschaftlich" beackert worden sind. Gefragt sich doch einfache, eindeutige, "klar belegte" Fragestellungen. Je näher man aber an die tatsächliche Lebenskomplexität herankommt, desto mehr verschwimmen meist die angeblich angemessen erfaßbaren Zusammenhänge. (S. 142)

Im 26. Zyklus resümiert sie ein wenig ihre Erfahrungen und Erlebnisse: "Ich habe genug von meinen Geschichten und meinen Seelenzuständen.. Außerdem merke ich, daß ich mich allmählich verdammt oft wiederhole. Wenn ich jetzt aus der Distanz diese Zeilen unter die Lupe nehme, dann schälen sich ein paar zentrale Punkte heraus: die wiederkehrenden Freßanfälle, der Wechsel von Angst, Wut, Euphorie. Die Beschäftigungen sind immer die gleichen: zur Luke gehen, Elektroden anbringen, tippen, photographieren, lesen. Und wie könnte es auch anders sein? Es ist erbärmlich und nervtötend. Das wars.." (S. 177)

Relative Langzeitaufenthalte in Höhlen gibt es heute auch bei Touren in sehr ausgedehnte Höhlensysteme, die lange Anmarschwege zu den Forschungsendpunkten erfordern. Das Riesending und das Gamslöcher-, Kolowrathsystem im Untersberg wird zur Zeit (um 2010) etwa so erkundet. Sven Altenheim beschreibt die Verschiebung der Zeiterfahrung in einem Bericht darüber so: "Da wir nun nicht mehr wirklich was Sinnvolles machen konnten, entschlossen wir uns am kommenden Morgen, noch 2 Stündchen ein paar kleine Röhren hinterm Biwak IV zu vermessen und dann den Nachmittag zu schlafen, um nachts um 10 los zu kommen. Es ist schon erstaunlich, daß, wenn es ruhig und dunkel um einen ist, der Körper da einfach schlafen kann. Um 8 noch mal gut was gekocht und dann ging's ans Biwak aufräumen und Zeug packen. Nachts um halb 10 ging es dann los ab nach draußen zu Muttersonne. Der Georg wollt nicht so wirklich wach werden und so manches Mal mußte ich richtig zu ihm runter brüllen "Seil frei", so daß ein schläfriges "Joaa" zu mir hochkam. U'm ca. 10 Uhr morgens nach ~12 Stunden Marsch traten wir aus der großen Eingangshalle ins Freie. Genossen noch den Geruch von Ozon und nach kurzer Zeit den völligen Flash durch die 28° am Berg, die Sonne und vom Jet lack.." (Altenheim 18)


Die moderne Version der Langzeitaufenthalte in abgeschlossenen Räumen zur Erforschung des menschlichen Verhaltens sieht ganz anders aus. Das sitzen 6 Männer für 17 Monate in einem Moskauer Gewerbegebiet in einer Raumschiffnachbildung und Wissenschaftler beobachten sie dabei. Wie unromantisch. (Axel Hacke, Das Beste aus aller Welt, Süddeutsche Zeitung Magazin 25. Januar 2013, S. 46)

Eine andere Form des Erlebnisses von "Eintönigkeit" wird heute auch dadurch erforscht, daß sich Menschen z.B. für die gesamten Wintermonate in der Antarktisregion einschließen lassen, was 4 Monate absolute Dunkelheit bedeutet. Carmen Possnig. Eine Weltraummedizinerin, hat darüber unter "Fragen an den Winter" berichtet (SZ Nr. 279, 2. Dezember 2020, S. 8). Eine aktuelle Darstellung dieses Themas findet sich in : Gielas, In Eis und Finsternis. Lesenswert!

Heute gibt es ja auch die tatsächlichen Erfahrungen mit Aufenthalten z.B auf der ISS. Bemerkenswerterweise fallen da Erkenntnisse an, die man umgekehrt auch auf die Aufenthalte in Höhlen anwenden kann. Dana Ranga hat Erlebnisberichte von Astronauten in literarische Form gebracht und herausgekommen ist z.B.:

"Die Reise ins All  
ist eine Reise des Geistes
warum fliegen wir in den Weltraum
wenn nicht um etwas
über uns zu erfahren
und über das, was es mit diesem Universum
auf sich hat?
Über unseren Platz in dieser Ordnung
und darüber, was es bedeutet
ein Mensch zu sein."          (Dana Ranga / Lehmkuhl, 1,5 Zentimeter zum tödlichen Vakuum)

Gibt es wirklich "handfeste" Antworten auf diese uralten Fragen? 


You-Tube-Filme:

http://www.youtube.com/watch?v=Xe3cunx-6rg&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=2h2vrJmCewI

http://www.youtube.com/watch?v=2tjNYNG0PQA&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=qr1bFsI9CTc&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=oyS_T2z6qm8&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=W2UUOuoBtyA&feature=related

Literatur:

Altenheim, Sven Forschungstour Untersberg, ATLANTIS 3-4 / 2011, S. 15-18
Bauer, Ernst W. Höhlen Welt ohne Sonne, Wien - Esslingen - Stuttgart 1971
Bruckmüller, Herbert Warum kannst du nicht fliegen? Eine Odyssee im Toten Gebirge, 1998
Meier, Christian J. Im Winterschlaf durchs All, SZ Nr. 49, 28.2.2023, S.12
Crone, Philipp: Interview "Endlich die Erlaubnis, faul zu sein" Till Roenneberg, SZ Nr. 4-7.Januar 2021, FFB-Teil, S. 1
Danga Ranga Cosmos! Matthes und Seitz, Berlin 2020
Deubner, C. Das Höhlen-Experiment, Der Schlaz 33-1981, S. 11ff.
dpa Zurück ins Tageslicht, HNP 26.4.2021 / kopiert in: SCHLUF 33-2022, S. 108
Eckert, Michael Im Räderwerk der biologischen Uhr, Süddeutsche Zeitung 23. November 1995, Nr. 270 / Seite II
era Auch wenig Licht verstellt die biologische Uhr, Süddeutsche Zeitung 29. Februar 1996, Nr. 50, Seite 1
Fischer, Ernst Peter Durch die Nacht - Eine Naturgeschichte der Dunkelheit, Pantheon 2017
Folsom, Franklin Exploring American Caves, Collier, New York 1962
Franke, Herbert Astronautik, Aquanautik und Speläonautik, Vereinsmitteilungen Salzburg 1-1969
Galvagno, Andrea, Mallard, Michel Expérience hors du temps, SPELUNCA n° 57, 29-31
Geier, Moritz Neues vom Menschenaffen, SZ Nr. 96, 27.04.2021, S. 8
Gielas, Anna In Eis und Finsternis, Psychologie Heute 01/2023, S. 25
Hauschild, Jana Schlafen wie im Weltall, Süddeutsche Zeitung Nr. 11 14./15. Januar 2017 WISSEN 33
Herrmann, Sebastian Von allem abgeschnitten, Süddeutsche Zeitung Nr. 303, 31. Dezember 2016, WISSEN, S. 38
Hildebrandt, Gunter u.a. Chronobiologie und Chronomedizin. Biologische Rhythmen, medizinische Konsequenzen, Stuttgart 2013
Hirner, Rudi Menschenforschung ohne Menschen - Über den Langzeitaufenthaltsversuch von V. LeGuen, Der Fränkische Höhlenspiegel Nr. 37-1992, S. 58-62
Javlov, A., Tsonev, S. Jours et Nuits sous la terre, dans la série "Conquérants de la Nature", aux éditions Médecine et Culture Physique, 1980, 97 p.
Klappacher, Walter Zusammenfassung der 14-tägigen tantalexpedition 1973 (psychologische und soziologische beobachtungen), Vereinsmitteilungen Salzburg 1973
LeGuen, Veronique Allein mit der Angst, Heyne-Verlag 1994
Lehmkuhl, Tobias 1,5 Zentimeter zum tödlichen Vakuum, SZ Nr. 13, 18. Januar 2021, S. 11
Lemmer, Björn Chronopharmakologie - von der Phänomenologie zur Pharmakotherapie, PZ Nr. 9 - 135. Jahrgang, 1. März 1990, S. 9ff.
Lindenmayr, Franz Altert man in Höhlen langsamer? Münch. med. Wochenschrift 126 (1984) Nr. 24, S. 134f.
Meier, Christian J. Im Winterschlaf durchs All, SZ Nr. 49, 28.02.2023, S. 12
ofp Freiwillig 40 Tage in der Grotte, HNP 16.3.21, kopiert in: Schluf 33-2022, S. 108
Ohne Verfasserangabe Interview mit Michel Siffre "Wie kurz sind zwei Monate, Herr Siffre?", in: Süddeutsche Zeitung MAGAZIN 25. April 2013, S. 22
Ohne Verfasserangabe Underground mind research, DESCENT (126) OCT/NOV 1995, p 7
Ohne Verfasserangabe Höhlenleben, Zeitungsbericht vom 8.5.87 (NW - Bern)
Ohne Verfasserangabe Tales of A Caveman, TIME JULY 27,1987
Oldham, Tony and Anne  Discovering Caves - A guide to the show caves of Britain, Shire Publications Ltd., Aylesbury 1972
Perry, Susan, Dawson, Jim Chronobiologie - die innere Uhr Ihres Körpers, Ariston, 2. Auflage, Genf-München 1991
Petrov, Peter, Chabert, Jacques une experience de confinement souterrain en Bulgarie, Grottes et Gouffres 88 1983 p 9-12
Siffre, Michel Beyond Time, New York 1965
Siffre, Michel Expériences hors du temps
Siffre, Michel Länger als ein halbes Jahr unter der Erde, in: Der Höhlenforscher 2-1976, S. 26f.
tz Neuer Weltrekord: 109 Tage allein in Tropfsteinhöhle! TZ 1. Dezember 1968, S. 11
Veljkovich, Milutin Under Stony Sky
Veljkovich, Milutin Foundation for Mind Research in extended sensory deprivation, NEWSLETTER Issue 1, July-September 1995
Wendel, Urs Das Experiment - Acht Tage in der Wendelsteinhöhle, Der Schlaz 112-2008, S. 28ff.

Links:

https://www.stumpcrosscaverns.co.uk/news/episode-8-geoff-workman-105-days-later-2

https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/forschungsprojekt-deep-time-40-tage-dunkelheit-a-2f4842e3-7812-41e8-bdba-28d2354b734a

http://www.grottedeclamouse.com/deu-siffre.shtml

Outdoor Erfahrung

CABINET // Caveman: An Interview with Michel Siffre

http://www.allaboutheaven.org/observations/15288/221/milutin-veljkovich-and-his-cave-stay-017230

http://www.serbia.com/464-days-cave-serb-broke-guinness-world-record/

https://www.youtube.com/watch?v=In4Dt8JulPA

https://twitter.com/esa_caves/status/417417817579737088

https://www.theguardian.com/world/2006/oct/13/italy.mainsection

Höhle-Religion-Psyche


[ Index ] [ Englisch version ] [ Höhlen und Höhlengebiete ] [ Kunst ]
[ HöRePsy ] [ Höhlenschutz ] [ VHM ] [ Veranstaltungen ] [ Links ]