Franz Lindenmayr / Mensch und Höhle

Die Reichersdorfer Gänge, Bayern

Die Volkshochschule Gmund hat inzwischen auch einen Ausflug unter dem Titel "Von Mythen und magischen Orten" im Programm. Wer da mitmachen will, der soll auch eine Taschenlampe mitnehmen, denn es soll unter anderem auch in die "Reichersdorfer Gänge" gehen. Das ist nun die Profanierung eines Platzes, der seit Jahrhunderten die Menschen bewegt.

Durch einen "Zufall" im klassischen Sinne wurde er wiederentdeckt. "Wenn einer in seinem Garten ein Loch gräbt in der Absicht, einen Baum zu pflanzen, und dabei auf ein irdenes Gefäß voller Goldmünzen stößt, ist das ein Zufall, sagt Aristoteles". (Georg Brunold S. 45) Ein Bauer,  "ein Paursmann hannß Westiner genant", wollte in diesem Falle am 11. Juli 1640 ein Loch graben, um einen Brunnen zu bekommen, und stieß in mehreren Metern Tiefe vollkommen unerwartet auf unterirdische Gänge von unbekanntem Alter und unbekannter Zweckbestimmung. Vollkommene "Überraschung" rief das hervor, niemand hätte das vorher erwarten können, das Kernmoment eines "zufälligen Ereignisses.

"3 Claffter under der Erden wurde ein wunderbahrliche Creuz Grufft mit underschidlichen Gegen erfunden" - so die Originalformulierung in einem alten Text. Dem Wasser aus dem Brunnen und dem Erdreich aus der Kreuzkluft wurde nachgesagt, "krankhen Leuthen und Vieh" zu helfen. Probst Valentin aus Weyarn ließ 1644 eine neue Kirche in Form einer Rotunde errichten, die 1730-1740 barockisiert und 1980-82 renoviert wurde.

Ursprünglich war der Erdstall nur über den "11 Klafter tiefen" und 1,20 m im Querschnitt messenden Brunnenschacht zugänglich. Wie gelangten man damals hinein? In einem alten Text heißt es: "Personen, welche sich hinabgelassen haben" - Haben die sich an einem bloßen Seil hinuntergelassen in den senkrechten Schacht? Wie kamen sie dann wieder herauf? Dazu hat es wohl einer gewissen Kühnheit bedurft! Aus einer späteren Quelle erfahren wir, daß die Kreuzkluft von der Kapelle her zugänglich gemacht wurde, wobei der Zugang hinter dem Altar gewesen sei. Laut einer Urkunde in der Kapelle wurde der heutige Treppenabgang um 1890 von Haushammer Bergleuten neu errichtet und hat nun einen separten Zugang außerhalb der Kirche. Der Zugang von wurde von 2 Mitgliedern des Arbeitskreises für Erdstallforschung inzwischen restauriert, da er vom Zahn der Zeit schon sehr angegriffen worden war. Sogar ein neues Türschloß spendierten sie!

Heute steigt man 3,80 m auf Steintreppen in die Tiefe. Dann hat man das horizontale Niveau erreicht und geht in einem bequem begehbaren geschwungenen Gang bis zur ersten niederen Abzweigung nach rechts. Ob dieses Gangstück original ist oder erst später geschaffen wurde? Auf dem "Urplan" fehlt der Hinweis darauf, sondern da steht lediglich: "Gänge, welche zum Theil noch weiterlaufen; zum Theil verfallen sind". Bei der Abzweigung kann man auf allen Vieren hinein in die alte "Kreuzkluft", die sich in drei kurze Zweige aufgespaltet. Nach links geht es zum Brunnenschacht, der heute nach oben hin abgedeckt ist. Der Brunnenschacht ist mit zugehauenen Kalkquadern in Trockenmauerwerktechnik innen ausgekleidet.

Zurück im Hauptgang ist gleich links danach eine kleine Kammer, in der man früher ein "Altärchen mit dem Brustbild der heil. Barbara, aus Stein oder gebranntem Thone, roth und grün bemalt, mit einer Krone auf dem Haupte, das Ganz 1 1/2 Fuß hoch", fand. Im Fuß der Statue finden sich die Buchstaben "WVGZHWHM". Inzwischen ist sie entfernt worden und ist momentan in der ERDSTALLAUSSTELLUNG zu sehen.

Gleich nach dieser Stelle bekommt die Anlage richtigen Erdstallcharakter. Bei Panzer wird deren Größe noch im "Füßen" angegeben: "3 1/2 Fuß bis 4 Fuß Höhe, Breite 2 Fuß". Das Gangstück ist 3 m lang, dann verzweigt sich der Erdstall. Geradeaus geht es noch gut 5 m in niederen Dimensionen bis es leicht ansteigend komplett endet "in der geologischen Masse". Der typischte Teil des Erdstall biegt rechtwinkling nach links ab. Genau gegenüber ist eine kleine Wandnische. Drei Meter geht es hinein, dann endet alles an einer Felswand aus Moränengestein. Aber im Boden tut sich das typischte Merkmal von Erdställen auf: ein Schlupf nach unten. Früher war er rund mit einem Durchmesser von ca. 40 cm. Heute ist er schon stark erweitert, weil ja seit Jahrhunderten nun Menschen sich hier hindurchgezwängt haben. Man kommt nicht weit. Ein Gangstück von etwa 10 m Länge, niedrig, einmal nach links und dann wieder nach rechts geknickt, dann ist Ende. Herbert Wimmer hat an dieser Stelle in seinem Plan getragen: "von hinten verfüllt". Ist hier der Schlüssel zur Frage, wie man denn früher zu Zeiten des Baus der Anlage hierher gelangt ist, zu suchen? Wie kam man früher in den Erdstall? Von wo er wurde er gegraben? Wo hat man das Material herausgeschafft? Lauter Fragen, aber keine Antworten. Dieser Teil liegt übrigens heute direkt unter dem Bauernhof der Familie Straßmair.

Um diesen Ort kreisen einige Sagen und rätselhafte Geschichten. Panzer berichtet, daß sich einige alte Leute noch an die Sage erinnert hätten, daß in den unterirdischen Räumen "singende Jungfrauen" gewesen sein sollen. Hat man deren "Jungfrauenqualität" an deren Gesangsqualität ermittelt? Auch von einer unterirdischen Verbindung war einst die Rede. Von Reichersdorf reiche ein Gang bis nach Weyarn. Für das andere Ende dieser unterirdischen Hohlform hielt man einen Ort, der als eine "verfallene Grottenkapelle oder Klause" galt. Es heißt auch, daß es einmal eine unterirdische Verbindung zwischen dem System unter der Kapelle und der St. Leonhardikirche gegeben hätte. Gefunden hat man davon noch nichts.

Was antwortet jemand spontan, der noch nie vorher einen Erdstall besucht hat, und der in Reichersdorf gewesen ist, auf die Frage, wozu, seiner Meinung nach, so ein unterirdisches Bauwerk geschaffen wurde? Zweite Antwort: Um sich dorthinein zu flüchten, auf keinen Fall. Erste Antwort: Aus der Sicht der letzten hundert Jahre: Um dort gute Photos machen zu können. Sehr ernüchternd, solche Antworten.

 
Niemand sieht dieses Stelle so, wenn er selber hineingeht - dies ist ausschließlich eine "Ausgeburt" des Fotographen
Der Übergang in den Erdstall

Erster Plan des Erdstalls / a kennzeichnet der früheren Zugang durch den Brunnenschacht
 Draußen
Modell des Erdstalls von Reichersdorf in der "ERDSTALLAUSSTELLUNG"
2018    

 


 

Literatur:

Ahlborn, Dieter Restaurierter Eingang zum Erdstall Reichersdorf, Gde. Irschenberg, Lkr. Miesbach, in: Der Erdstall 34, Roding 2008, S. 124
Ahlborn, Dieter, Kick, Walter Neues "Altes" aus Reichersdorf, DER ERDSTALL 36-2010, S. 41ff.
Ahlborn, Dieter Erdstall Reichersdorf - Kultstätte der Heiligen Barbara, Die künstliche Höhle 2017, S. 40ff.
Bernstein, Martin Sechs Meter unterm Hier und Jetzt, Fürstenfeldbrucker SZ Nr. 193, 24. August 2009, S. R 2
Bernstein, Martin Zwei Stockwerke unterm Hier und Jetzt, in: Süddeutsche Zeitung, Dunkle Höhlen und geheime Gänge, München 2010, S. 39ff.
Brunold, Georg Fortuna auf Triumpfzug - Von der Notwendigkeit des Zufalls, Galiani-Verlag, Berlin 2011
Dehio München und Oberbayern, München 1990
Der Erdstall Heft Nr. 10, Roding 1988, S. 88
Der Erdstall Heft Nr. 26, Roding 2000, S. 108-109
Kratsch, Klaus Denkmäler in Bayern Landkreis Miesbach, Schnell & Steiner, München Zürich 2. Auflage 1987
Meckel, Miriam NEXT - Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns, Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011
Panzer, Friedrich Bayerische Sagen und Bräuche, Band 1, Verlag Otto Schwartz & Co, Göttingen 1954
Schwarzfischer, Karl Die Kreuzgruft zu Reichersdorf, in: Der Erdstall, Heft Nr. 2, Roding 1976
Süddeutsche Zeitung Edition Dunkle Höhlen und geheime Gänge, München 2010

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