Franz Lindenmayr / Mensch und Höhle

Höhlen im Pilatus, CH


"Jeder kennt den Berg, und keiner kennt ihn ganz." Peter von Matt


Der Pilatus, zu römischer Zeit noch "mons fractus" genannt, also "geborstener, zerbrochener Berg", ist einer der besten Aussichtspunkte in der Schweiz. Von seinem Gipfel hat man einen Blick auf die Alpenkette vom Säntis bis zu den Jungfrau, Mönch und Eiger. Wer nord- und westwärts die Augen schweifen läßt, der sieht bis zum Schwarzwald und dem Jura. Wer als Höhlenforscher sich umschaut, der wird sowohl die Siebenhengste ausmachen wie auch das Muotatal, die beiden großen Schweizer Höhlengebiete.

Wer heute auf den Gipfel des Pilatus will, wie ich und Willi Adelung das am 5. September 2003 mal gemacht haben, der kann sich wohl kaum mehr vorstellen, daß das mal große Schwierigkeiten bereitet hat. Wie leicht das heute ist, sieht man alleine an den vielen Rollstuhlfahrern, die auf der Sonnenterasse herumfahren.

Im Jahre 1387 war das z.B. ganz anders. Da sind sechs Geistliche aus Luzern hinaufgestiegen und wurden dafür von den Vorgesetzten mit Gefängnis bestraft! Seit 1856 gibt es das erste Hotel in Gipfelnähe, 1889 errichtete man eine Zahnradbahn von Alpnachstad, die steilste der Welt immerhin, und später kam noch eine Seilbahn von Kriens her dazu.

Heute ist der Pilatus ein Goldesel. Gemolken werden die Touristen, die zuhauf kommen. 80 sfr werden zum Beispiel für die Auf- und Abfahrt mit der Zahnradbahn verlangt. Das ganze Geschäft hat ein Markenzeichen - den Drachen.


Den sieht man schon an der Talstation in Alpnachstad als große Eisenskulptur. Auf den Shirts der freundlichen Serviceleute prangt der rote Drache genauso wie auf den Zugwaggons, es gibt ein Drachenfoyer im Hotel und Plastikdrachen in der Schnapsflasche in Gipfelshop. Es gibt inzwischen ein "Drachenmusical". Und als neueste Errungenschaft gibt es einen Drachenpfad im "Oberhaupt", einem der Gipfelberge des Pilatus. Man geht in einer künstlichen Felsgalerie mit prachtvollen Ausblicken auf Luzern und die Nord- bis Westseite des Berges. In einzelnen Tageslichtnischen sind Reproduktionen von Hans Erni, einem Schweizer Künstler, der die Bergsagen um den Pilatus bildnerisch gestaltet hat.

"Auf dem hohen Pilatus hat es Drachen und Lindwürmer vollauf gegeben, die hausten in unzugänglichen Höhlen und Schluchten des gewaltiges Alpenbergstocks. Oft haben Schiffer auf den Seen sie mit feurigen Rachen und langen Feuerschweifen vom Pilatus herüber nach dem Rigi fliegen sehen." (Bechstein).
Von einem Küfer aus Luzern wird berichtet, er sei auf den Pilatus gestiegen, um Holz für seine Fässer zu sammeln. Er verirrte sich, die Nacht kam und er sei in eine Schlucht gestürzt. Drunten sei es schlammig gewesen und als der Tag wieder anbrach, da habe er zwei Eingänge in die Tiefe zu großen Höhlen gesehen. In jeder dieser Höhlen habe ein "greulicher Lindwurm" gesessen. Sie hätten ihm viel Furcht eingeflößt, aber sie hätten ihm kein Leid angetan. Zuweilen hätten sie an den "feuchten salzigen Felsen" geleckt. Da keine andere Nahrung zur Verfügung stand, habe der Küfer das auch getan. Sein Aufenthalt dauerte einen ganzen Winter lang. Im Frühling habe sich der größere Drache aufgemacht und sei mit großem Rauschen aus dem feuchten Loche davongeflogen. Der kleinere Lindwurm sei immer um den Küfer herumgekrochen, habe ihn gleichsam "liebkost", als wolle er ihm zeigen, daß auch er mit heraus sollte. Der arme Mann habe Gott und dem heiligen Leodager gelobt, für die Stiftskirche im Hof zu Luzern ein schönes Meßgewand zu stiften, wenn er der Drachengrube wieder entrinnen könnte. Als der junge Drache sich anschickte, aufzufliegen, hing er sich der Sage nach an den Schweif und fuhr mit ihm wieder auf, kam so wieder ans Licht, ließ oben los und kam so wieder zu den Seinen. Er habe nicht mehr lange gelebte, weil er der Nahrung entwöhnt gewesen sei, aber er konnte noch sein Gelübde erfüllen. Auf das Meßgewand wurde die ganze Begegnung gestickt und alles ins Kirchenbuch eingetragen. 1410 oder 1420 soll sich diese Begebenheit zugetragen haben. Man kann sogar die Tage genau des unterirdischen Aufenthalts angeben: vom 6. November des einen Jahres bis zum 10. April des folgenden.

Es gibt noch weitere Drachensagen, so die von Winkelried, einem Mann, der wegen einer Mordtat "Leib und Leben verwirkt hatte" und flüchtig war. Er bot sich an, gegen den Drachen zu kämpfen, der "Mensch und Vieh fraß" und die Berggegend überhalb von Wylen veröden ließ. Winkelried stellte sich dem Kampf, rammte einen Dornenstamm in den Rachen des Drachen, stach ihm sein Schwert in die Seite und tötete ihn so. Er machte aber einen Fehler. Das vor Stolz gehobene Schwert war noch voller giftigen Bluts, das herablief und sofort wie Feuer der Hölle auf der Haut brannte und das zum Tod des Helden führte.

Noch eine Drachensage erzählt davon, daß zwei Jäger, den Drachen, der in "einer tiefen Höhle" gewohnt und alles Vieh geraubt habe, erlegen wollten. Einer von ihnen wurde "ganz lebendig mit Haut und Haar" von dem Sagentier verschluckt. Der andere habe den "Drak" aber erschlagen und seinen Kameraden "noch lebendig" wieder herausgeschnitten.

Ein luzernischer Landvogt berichtet 1648 folgendes: "Während der Nacht habe ich einen glänzenden Drachen aus einem Loch einer sehr hohen Felsklippe am Pilatusberg mit sehr schnellen Bewegungen der Schwingen vorüberfliegen sehen. Im Fliegen warff er Funken von sich wie Eisen, wenn es geschmiedet wird."

Auch Zwerge und Berggeister würden im Pilatus in einer Höhle wohnen, die hoch oben liege und tief und schaurig sei. "Absonderlich viel Redens ist von dem hohen Berge Pilatus und den Zwergen, die sonst in seinem Geklüft wohnten" und Herdmanndli dort heißen.

Sie seien dem Menschen gut und hilfreich, "gespässige Lüet", sie verrichteten nachts der Menschen Arbeit, kamen vom Berg auch herunter in die Täler, schafften und ackerten redlich, und ein Herdmannli konnte mehr verrichten als zehn Meister mit allen Knechten. Über ihr Aussehen gab es kaum Aussagen, weil sie sich nur "wunderselten" sehen ließen. Sie hätten lange graue Kutten an, die bis auf die Erde reichen würden, so daß man nie ihre Füße sehen konnte. Ihre Lieblingsspeise sei Schweinefleisch gewesen.
Wenn man sie falsch behandelte, dann konnte man sie für immer verscheuchen, z.B. in dem man hinter ihr Geheimnis kommen wollte, wie denn ihre Füße aussähen.

Gibt es nun wenigstens diese Höhlen am Pilatus? Sind diese beschriebenen Schweife vielleicht nur Wolkenfahnen, die dem Eingang einer großen Höhle entsteigen und die vielleicht bei günstigen Umständen sogar vom Tal aus schon sichtbar sind?

Fährt man mit der Zahnradbahn hinauf, dann sind in den Felswänden des Esels und den Felswänden zum Tomlishorn verschiedene kleinere Öffnungen und Löcher durchaus auszumachen, aber die haben meist nur das passende Format für Herdmänndli, weniger für Drachen.

 

Eine bemerkenswerte Höhle liegt weiter westlich unterhalb des Widderfelds. Seit mehr als 500 Jahren ist sie bereits bekannt und beschäftigt seither die Gelehrten. Das Montmilchloch ist eine 117 m lange Spaltenhöhle im Schrattenkalk. Bereits 1555 beschreibt Konrad Gessner in seiner "Descriptio montis Fracti" und später in "De Fossilium, Lapidum et Gemmarum" die Caverna Lunaris (lat. Mondhöhle). Er war selber nie dort, was nicht angesichts der Lage nicht verwundert, aber er gibt das Erzählte aus der Bevölkerung wieder. Ihm wurde von einer eisernen Tür am Ende der Höhle erzählt und von der "heilkräftigen" Mondmilch, über die er sich aber keine weiteren Gedanken machte. Die älteste Abbildung des Mondmilchlochs stammt von dem Züricher Zeichner J. Melchior Füessli, der Dr. Nikolaus Lang 1708 auf einer Tour in die Höhle begleitete und deren Ergebnisse in der "Historia lapidum figuratorum" erschienen. 1865 wird die Höhle erstmals von A. Schürmann vom SAC vermessen, 1894 zeichnet F. Schär nach den Angaben von Schürmann den ersten Plan.

Der Hauptgrund für die Berühmtheit der Höhle lag an der Montmilch. Sie galt lange Zeit hindurch all Allheilmittel. Die weißen weichen Beläge an den Höhlenwänden waren lange Zeit hindurch vollkommen rätselhaft. So glaubte Gessner noch, daß sie unter Einwirkung des Mondes entstehe. Agricola hielt sie für eine Abart von Kaolin. Trimmel definiert die Bergmilch so:

"* lockere, wasserreiche Überzüge, die durch physikalisch- chemische, bzw. biochemische Vorgänge aus Sinterbildungen hervorgehen
* lockere, wasserreiche Überzüge an der Oberfläche des Muttergesteins der Höhle, die aus diesem selbst hervorgehen
* wasserreiche bis sehr wasserreiche und dadurch plastische Ablagerungen, deren Kalkteilchen nach einem Transport durch unterirdische Wässer abgelagert wurden" .

Löst man etwas davon im Wasser, dann bekommt es eine milchige Farbe, der Ursprung für den Ausdruck "Bergmilch"?

Hatten Frauen zuwenig Muttermilch, dann wurde ihnen die "Bergmilch" angeboten, damit sie besser zurecht kamen. Man soll sie auf fließende und unreine Geschwüre gerieben haben, innerlich wurde sie für Magenbrennen und Durchfall verwendet, wobei der Zusatz von "Regenwürmern, Glas, Korallen und Fenchelsamen" die Wirkung noch erhöhen sollte.

Die Höhle liegt in 1700 m Seehöhe am Fuße der Ostseite des Widderfels. Ausgangspunkt ist Lütoldsmatt, ein schönes Berggasthaus in 1149 m Höhe, das noch mit dem Auto erreichbar ist. Von da geht es erst auf einem geschotterten Fahrweg aufwärts, später auf einem offenbar nicht so häufig begangenen Bergsteig. Bei der Birchbodenalm zweigt ein unbeschilderter Weg ab. Jans spricht noch von einem "mit orangenen Punkten markierten Geißenpfad", aber die orangenen Punkte sind heute vergangen. Der Ausgetretenheit nach benutzen gar nicht so selten Leute diesen Weg. Ohne ihn wäre die Höhle kaum zugänglich, weil er die leichteste Trasse zum Felsfuß darstellt. An ein paar Stellen ist sogar leichte Kletterei notwendig. Der Eingang ist erst wenige Meter davor auszumachen.

Eingangshalle Eingangshalle Gangprofile Der Wasserschluf Die 3-m-Kletterstelle Höhlenboden Montmilch

Eine weite Felshalle nimmt einen auf. Bei mehreren Metern Raumhöhe ist Bücken nicht notwenig. An der rechten Hallenwand ist eine metallene Platte mit einem besinnlichen Text angebracht. Ansonsten gibt es kaum Spuren des Menschen. Bergwärts verengt sich der Gang bis zu einer Spalte, die immer niedriger wird. Am Ende ist man gezwungen, auf allen Vieren durchs Wasser zu kriechen. Dahinter wird es wieder etwas höher, ein 3 m hoher Wasserfall ist zu überwinden. Am 4.9.2003 war kein "über 100 Jahre altes Tannenstämmchen" mehr da, das einem half, die Felsstufe zu überwinden, die von einem Bächlein überronnen ist. Stattdessen hing da ein Knotenstrick, an dem man sich nach oben winden kann. Ober bleibts eng und ein Durchwuzeln zwischen den Spaltenwänden war mir gerade noch mittels Baucheinziehen möglich. Ein zweiter Wasserfall kommt noch, dann ein wieder größer werdender Gangteil in den das Bächlein "aus einer Öffnung in der Decke kommend" spritzend zu Boden kommt.
Insgesamt ist eine Begehung der Höhle wohl für die meisten Leute nichts, weil sie schon mal nicht ganz leicht erreichbar ist, nur für ein kurzes Stück bequem begehbar ist, dann zu einem Teilbad im kalten Wasser zwingt, eine kleine Kletterei beinhaltet und einige nur seitlich durchschliefbare Engstellen zu bewältigen sind. Erstaunlich ist das schon, daß man bereits vor hunderten von Jahren dort so tief in den Berg vorgedrungen ist.

 

So eng geht es da zu. Hemd und Wand, hautnah aufeinand.

Die Höhlen am Pilatus haben sogar mal in der Politik eine Rolle gespielt! Während der Besetzung der Schweiz durch Napoleon bekam eine alte Geschichte Gewicht, die man von einer unzugänglichen Höhle in der Felswand des Widderfelds erzählte. Dort würde der "Wächter Dominik und die Drei Telle" leben. Eine Riese schlafe dort zusammen mit den legendären Befreiern der Urschweiz.
Wie es immer so ist auf dieser Welt. Egal welcher Konstellation gerade herrscht auf dieser Welt, es gibt immer "Profiteure" und "Bezahler". In diesem Falle waren "konservative Aristokraten" unangenehm gerührt von dieser Geschichte und wollten sie "entlarven" als Lüge. Sage und schreibe 400 "Aristokraten" brachen am 12. Juni 1814 unter der Leitung des Obersten Karl Pfyffer zu eine Expedition nach der Bründlenalp beim Widderfeld auf. Der Tiroler Ignaz Matt seilte sich zur Höhle ab und fand heraus, was es wirklich mit dem "Wächter Dominik" auf sich hatte! Es handelte sich "nur" um einen verkalkten Felsblock! Matt vermaß gleich die Höhle: "28 franz. Fuss breit, 90 Fuss hoch und 120 Fuss lang". Die "Wahrheit" war herausgekommen!


Literatur:

Bechstein, Ludwig

Märchen und Sagen, München Zürich 1954

Bernasconi-Schwartz, Christine und Reno, Högl, Lukas, Perret, Danielle, Santschi, Catherine

La grotte dans l'art suisse du XVII^au XX siècle, Ausstellungskatalog zur Exposition organisée dans la cadre du 12e congrès international de spéléologie 10 - 17 aout 1997, La Chaux-de-Fonds

Cysat, Johann Leopold Beschreibung dess Berühmbten Lucerner- oder 4-Waldsätten-Sees un dessen Fürtrefflichen Qualitäten und sonderbaaren Eygenschafften. Dabey auch kürztlich angedeutet was vor alten Zeiten für Unthier als Drachen und Lindtwärmb allda gesehen.. Lucern, bey David Hautten, 1661

Jans, Victor

Das Montmilchloch am Pilatus (Schweiz), Die Höhle 2-1983, S. 58ff. und: Stalactite 33 (1), 52-58 (1983)

Matt, Peter von Das Kalb vor der Gotthardpost - Zur Literatur und Politik der Schweiz, Hanser, München 2012

Nünlist, Hugo

Der Pilatus und seine Geheimnisse

Reinbacher, Rudolf

Sprachliche Analyse des Ausdruckes "Mondmilch", Stalactite 45, 1,1995, S. 18ff.

Sterl, Dr. Margit, übersetzt von Alte Literatur - Aus dem Werk "Mundus Subterraneus" von Athanasius Kircher, Höhlenkundliche Mitteilungen Wien und Niederösterreich, 10-1991, S. 160

Trenker, Luis, Dumler, Helmut

Die schönsten Berge der Alpen, Bruckmann-Verlag, München 1990

Weber, P.X. Der Pilatus und seine Geschichte. Verlag E. Haag, Luzern 1913

Links:

PILATUS - Switzerland - Steepest cogwheel railway - Steilste Zahnradbahn

Wandertipp 01-2002 - Pilatus 2132m, Schweiz

Pilatus, Kulm, Zentralschweiz, Berg, Luzern

Pilatus

http://www.sagen.at/texte/sagen/schweiz/luzern/selbstmorddespilatus.html

http://www.vuotisheer.ch/sagen_text.htm

http://www.showcaves.com/german/explain/Speleothem/Moonmilk.html

http://www.schweizerbart.de/pubs/journals/0012-0189/paper/139/155

http://www.caves.org/pub/journal/PDF/V56/v56n1-Reinbacher.htm

 


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