Franz Lindenmayr / Mensch und Höhle
Die Bocksteinhöhle im Lonetal
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3 km nördlich von Öllingen liegt im Lonetal die Bocksteinhöhle und die beiden Nebenhöhlen, das Bocksteinloch und die Bocksteingrotte. Die Grundangaben über die Höhle sind schnell gemacht: Eingangshöhe 485 m NN, Länge 23 m, Breite 9 m.
Auch sie gehört seit 2017 zum UNESCO-Welterbe "Höhlen und
Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb". 1883 begann dort der königliche
Oberförster Ludwig Bürger (1844-1898) im Auftrag des Vereins für Kunst und
Altertum in Ulm und Oberschwaben mit der Ausgrabung. Er konnte verschiedene
Schichten unterscheiden, darunter zwei mit Tierknochen und Artefakten aus der
letzten Eiszeit sowie eine nacheiszeitliche mit Funden von der Jungsteinzeit bis
in das Mittelalter. Unter dieser Schicht wurde von den Arbeitern ein
aufsehenerregender Fund gemacht: Ein Hauenhieb legte das Schädeldach eines
Menschen bloß. Es gehörte zu einer erwachsenen Person in hockender Haltung. Zu
deren Füßen lag das Skelett eines Kindes.
Der erste Gutachter, der Stuttgarter Anthropologe Hermann von Hölder kam zu dem
Ergebnis, die Knochen seien höchstens 200 bis 300 Jahre alt. Der zweite
Gutachter, der Bonner Anthropologe Hermann Schaaffhausen, der wissenschaftliche
Bearbeiter der Skelettfunde aus dem Neandertal, 1856 entdeckt und 1888
publiziert, stimmte darin überein, daß es sich um eine Frau im Alter zwischen
20 bis 30 Jahren handelte, allerdings schätzte er das Alter der Knochen auf
mindestens 2000 Jahre. Ein heftiger Gelehrtenstreit setzte ein, der in einer
Bemerkung des bekannnten Arztes und Wissenschaftler Virchow auf einer Tagung der
Deutschen Anthropologischen Gesellschaft 1892 in Ulm gipfelte, wo er sagte:
"Der ganze Typus ist nicht geeignet anzunehmen....dass sie etwa eine
Mammutmelkering gewesen sei."
Eine neue Wendung nahm der Streit um die Knochen als man sie 1899 mit einem
Eintrag ins Totenregister der Gemeinde Öllingen in Verbindung brachte. Eine
Frau hatte sich, im dritten Monat schwanger, selber umgebracht. Als
Selbstmörderin bestattete man sie nicht auf dem Friedhof, sondern "legte
sie in einen Felsen im nahen Lonetal".
Die Sache schien erledigt. Da entdeckte man 100 Jahre später im Magazin des
Museums in Ulm die Skelettteile wieder und nahm einige Datierungen mittels der
Radiokohlenstoffmethode vor. Das Ergebnis: Die Bestattung fand im späten 7.
Jahrhundert v. Chr. statt und stellt damit eines der seltenen Gräber aus der
Mittelsteinzeit dar. Die Frau hatte wohl ein kurzes und hartes Leben gehabt.
Eine seichte Eindellung in der Scheitelregion läßt darauf schließen, daß sie
des Öfteren Lasten auf dem Kopf oder per Stirnband auf dem Rücken trug.
1881 beginnt die neuere Geschichte der Bocksteinhöhle. Ludwig
Bürger, Oberförster von Langenau, und Friedrich Losch, Pfarrer von Öllingen, beginnen mit einer
ersten Grabung in der Höhle, die 1883 und 84 intensiv fortgesetzt wird. Recht
locker beschreibt Bürger den Anfang: "Durch die Nähe des Hohlensteins
lüstern suchten wir nach Höhlenbären und fanden, wie einst Saul, der Esel
suchte - mehr."
Die große Frage war ja gewesen, ob der Mensch gleichzeitig
mit Höhlenbär, Mammut und anderen urzeitlichen Tieren gelebt hatte oder nicht.
Das war lange Zeit von der Wissenschaft bestritten worden, die den biblischen
Schöpfungsbericht als alleinige Grundlage der "Wahrheit" anerkennen
wollte und diese Haltung auch massiv durchsetzte. Was nicht ins Weltbild passte,
das wurde buchstäblich aussortiert und nicht beachtet. Die Evolutionstheorie,
von Darwin, Wallace und anderen in die Welt gesetzt, brachte dieses
Erkentnisgebäude stark ins Wanken, aber es gibt noch heute Leute, die das Alte
immer noch glauben.
Im Bockstein fand man sowohl Gebiß- und Skelettreste von Tiefen als auch Stein-
und Knochengeräte, die vom Menschen bearbeitet worden waren. Als der
Württembergische Anthropologische Verein am 21. November 1883 der Höhle einen
Besuch abstattete, erklärte man, das Fundgut "reiht sich ebenbürtig an
die berühmtesten Höhlen Schwabens an." (Adam 29). Besonders zwei
menschliche Skelette, die man gefunden hatte, gaben zu unterschiedlichsten
Interpretationen Anlaß. Der Gipfel war wohl die Bemerkung Rudolf Virchows auf
einer Tagung der deutschen anthropologischen Gesellschaft 1892 in Ulm, daß die
"einstige Trägerin des Schädels..wohl nicht...mit dem Mammuth in
Beziehung gestanden habe, dass sie etwa eine Mammutmelkerin gewesen sei."
(Adam 30).
Das Leben dieser "Mammutmelkerin", die nie eine gewesen war, sondern
eine Frau im Alter von 20 bis 25 Jahren, konnte erst etwa 100 Jahre später
aufgeklärt werden, nachdem man die lange Zeit verschollenen Knochen von Mutter
und einem Kind in den Magazinen des Museums Ulm wiederentdeckt hatte. Mittels
mehrerer Radiokohlenstoffuntersuchungen konnte ein Alter der Bestattung im
späten 7. Jahrhundert v. Chr. ermittelt werden. Sie hatte wohl kein leichtes
Leben, was die genaue Untersuchung der Knochen und der Zähne ergab (Details
dazu in Wehrberger und Wahl).
1908 unternahm Robert Rudolph Schmidt eine weitere kleine Sondage dort.
1932 wurde die Bocksteinschmiede entdeckt, nachdem man Füchse im Felsen
verschwinden hatte sehen. Robert Wetzel leitete die Ausgrabungen dort, die zur
Entdeckung einer reichen altsteinzeitlichen Schichtenfolge führte und bis 1935
dauerte. 1953 bis 1956 wurden die Arbeiten am Bockstein weitergeführt, wobei
man den alten Eingang in die Höhle entdeckte. das sog.
"Bocksteintörle". Das heutige 9 m breite Portal war ja erst
entstanden, als Bürger Sprengungen vornehmen hatte lassen.
Bei einem Besuch in der Höhle im September 2021 waren die
vielen Warnschilder nicht zu übersehen: "Höhle ist Einsturz-gefährdet.
Betreten auf eigene Gefahr." Wer hat den Schreiber dieses Textes bloß im
Fach "Deutsch" unterrichtet? Tatsächlich finden sich viele
Steinbrocken am Boden, die dort wohl noch nicht lange liegen. Allerdings weiß
keiner, wann der nächste folgt. Aber ist es sicherer draußen? Vielleicht
trifft einen da ein Meteorit. Sehr unwahrschein, aber nicht ausgeschlossen.
Oder?
September 2021 | ||
Bilder von früheren Besuchen | ||
Das Tal unterhalb der Höhle | ||
Literatur:
Adam, Karl Dietrich | Anfänge urgeschichtlichen Forschens in Südwestdeutschland, S. 21ff. |
Albrecht, Rolf | Höhlen, Felsen und Ruinen, Verlag E.+S. Fleischmann, Esslingen 1980 |
Bauer, Ernst Waldemar, Schönnamsgruber, Helmut | Das große Buch der Schwäbischen Alb, Theiss-Verlag, Stuttgart, 3. Auflage 2004 |
Binder, Hans | Höhlenführer Schwäbische Alb, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart und Aalen 1977 |
Bürger, L. | Der Bockstein, das Fohlenhaus, der Salzbühl, drei prähistorische Wohnstätten im Lonethal. Mitteilungen des Vereins für Kunst und Alterthum in Ulm und Oberschwaben, H. 3 (1892) |
Conard, Nicholas J., Kind, Claus-Joachim | Als der Mensch die Kunst erfand - Eiszeithöhlen der Schwäbischen Alb, Theiss, 2017 |
Feil, G. | Höhlen im Lonetal, Laichinger Höhlenfreund 5-1968, S. 2ff. |
Hahn, Joachim, Müller-Beck, Hansjürgen, Taute, Wolfgang | Eiszeithöhlen im Lonetal, 2. Auflage, Stuttgart 1985 |
Hahn, Joachim, u.a. | Eiszeithöhlen im Lonetal. Archäologie einer Landschaft auf der Schwäbischen Alb. Von Joachim Hahn, Hansjürgen Müller-Beck, Wolfgang Taute. Stuttgart, Verlag Müller & Gräff, Kommissionsverlag, 1973 |
Holzhaider, Hans | Die Knochen von der Lone, Süddeutsche Zeitung Nr. 112, 15. Mai 2019, S. 14 |
Kind, Claus-Joachim | Das Lonetal - eine altsteinzeitliche Fundlandschaft von Weltrand, Archäologie in Deutschland 6-2016 22-25 |
Krämer, Günther, Wehrberger, Kurt | Karstlandschaft Lonetal - ein Fluss geht in den Untergrund, in: Rosendahl, Wilfried, Junker, Baldur, Megerle, Andreas, Vogt, Joachim (Herausgeber), Verlag Dr. Friedrich Pfeil, München 2006 |
Meister, Conny, Heidenreich, Stephan M. | Zwei Täler, sechs Höhlen, ein Antrag, Archäologie in Deutschland 6-2016 32-33 |
Rieck, G. | Die Mammutjäger vom Lonetal Ulm, 2000, online: https://sites.google.com/site/noicaterderw/die-mammutjaeger-vom-lonetal-26152354 |
Seewald, C. | Urgeschichtliche Funde aus dem Lonetal. Ausst'kat. Mus.Ulm. , 1962 |
Wehrberger, Kurt, Wahl, Joachim | Die "Mammutmelkerin" vom Lonetal, Archäologe in Deutschland 3-2020, S. 44-45 |
Wetzel; Robert | Die Bocksteinschmiede ... Ein Beitrag zur Europäischen Urgeschichte des Lonetals... 1. Teil.Kohlhammer-Vlg. 1958. |
Links:
http://www.lonetal.net/bocksteinhoehle.html
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