Franz Lindenmayr / Mensch und Höhle
Amaterasu und die Höhle
Im ältesten Schriftwerk Japans, das den Titel "Kojiki" trägt und im Jahre 712 vollendet wurde, wird die Geschichte vom Amaterasu erzählt.
Sie hätte sich wegen der Untaten ihres Bruders Susanoo in eine Höhle zurückgezogen, was zur Folge hatte, daß die ganze Welt draußen in Dunkelheit versank. Um alles zu retten, versuchen die anderen Götter alles mögliche, um sie wieder herauszulocken. Man trommelt, schlägt Becken gegeneinander, spielt Flöte. Sogar einen Hahn läßt man kräher, aber alles hilft nichts. Schließlich wird die junge Göttin Uzuma angehalten, einen "ziemlich obzönen" (eine andere Quelle schreibt: "verrückter, lasziver") Tanz aufzuführen, je nach Version heißt es, von Halbnackt mit Ganznackt, der acht Myriaden von Göttern in Lachen ausbrechen ließ. Sie sei neugierig geworden, was denn da vor sich ging. Da blickt sie in einen Spiegel, den man vor dem Eingang zur Höhle aufgehängt hatte. Sie blickt hinein und sieht zum ersten Male ihr eigenes Antlitz. Ein anderer Gott, der "Mann der starken Hand des Himmels, der zum Eingang hinaufgeklettert ist, packt Amaterasu an der Hand und zieht sie aus der Höhle heraus. Sie, die für die Sonne steht, kehrt zurück und schenkt nun wieder der Welt ihr "lebensspendendes Licht" (MacGregor 85). Eine andere Quelle spricht davon, daß der Gott Ame no Futoma ein Seil quer über den Eingang gespannt hätte, nachdem Amaterasu herausgekommen sei, damit sie nicht zurück in die Höhle hätte können.
Den Spiegel soll es heute noch geben, aber nur einer bekommt ihn zu Gesicht, der japanische Kaiser. Dieser und seine ganze Familie stammt nach der Überlieferung direkt von Amaterasu ab.
Am 17. Juli jeden Jahres findet für Amaterasu in ganz Japan ein großes Fest mit Straßenprozessionen statt. Die religiösen Veranstaltungen dauern den ganzen Monat Juli über an - im Rahmen des Gion Matsuri-Festes.
Der Imano Iwato Shrine bei Takachiho auf der Insel Kyushu, der
südlichsten der japanischen Hauptinseln, steht in der Höhle, die der Sage nach
der Schauplatz des Geschehens gewesen sein soll. Man kann ziemlich nahe
herangehen, aber das Betreten der Höhle ist dann doch verboten. Auf dem Weg
dorthin sieht man viele Steinmännchen, die von den Besuchern errichtet worden
sind. Man kann die in der Nähe liegende Amano Yasukawara-Höhle besuchen, wo
sich der Sage nach die Götter beratschlagt hätten, was man denn tun könne, um
die beleidigte Sonnengöttin wieder aus ihrer Höhle zu locken. https://www.japan-guide.com/e/e8054.html
Beim Schrein werden jeden Abend für Touristen vier Kagura-Tänze
aufgeführt. (siehe Loose-Führer S. 567)
In Liedtext von "Anthem" von Leonard Cohen gibt es Zeilen, die sehr an den angesprochenen Mythos erinnern:
"Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That’s how the light gets in."
In einem Gedicht von Rainer-Maria Rilke
(Todes-Erfahrung):
"Doch als du gingst, da brach in diese Bühne:
ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
durch den du gingst: Grün wirklicher Grüne,
wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald."
Ist da nicht auch so ein gewisses Grundgefühl spürbar?
Literatur:
Campbell, Joseph | Der Heros in tausend Gestalten, insel taschenbuch 4073, 4. Auflage 2018 |
Löffelmann, Monika | Die Höhle im Shintoismus, in: Arbeitskreis Höhle-Religion-Psyche, Tagungsband 1999, 33-36 |
Luca, Pina de, Liguori, Daniela (Hrsg.) | Die Bildung der Sinne. Rilke auf Capri, Stauffenburg Colloquium, Tübingen 2016 |
MacGregor, Neil | Leben mit den Göttern, C.H.Beck, München 2018 |
Matsumae, Takeshi | The heavenly rock-grotto myth and the Chinkon ceremony, Asian Folklore Studies 39/2, S. 9-22 |
Links:
https://www.ancient.eu/Amaterasu/
https://www.britannica.com/topic/Amaterasu
https://www.nzz.ch/feuilleton/eine-goettin-zieht-um-1.18165325
Anthropospeläologisches aus Japan
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