Franz Lindenmayr / Mensch und Höhle

"reduce to the max - Leben aus dem Rucksack"


In der Evangelischen Akademie Tutzing fand vom 22. bis 24. Oktober 1999 die Tagung

"KLEINE SCHRITTE - GROSSE SPRÜNGE - Versuche nachhaltig zu leben"

in Kooperation mit der "anstiftung - gemeinnützige Forschungsgesellschaft" statt. Am Samstag nachmittag teilten sich die etwa 80 Anwesenden in kleinere Gruppen auf, um anhand der Vorstellung einzelner "Projekte und Lebensgeschichten" besser darüber reden zu können. Bei der Durchsicht des Angebotes blieb sofort mein Blick am "Rucksack"-Thema hängen. Dozent sollte Thomas Diener aus Zürich sein.

Als am Freitag abend die verschiedenen Gruppen von den Gruppenleitern jeweils vorgestellt wurden, ging das in diesem Fall nicht. Er war nämlich noch nicht eingetroffen. An seiner Stelle tat dies recht charmant eine Mitarbeiterin der Akademie. Da war vom Verschenken der Bücher an die örtliche Bibliothek die Rede, das Büro sei ins Internet verlegt worden, nur eine einzige Matratze habe der Dozent noch irgendwo, für Notfälle.
Als ich abends am Tutzinger Bahnhof vorbeispazierte und den Wartesaal durchquerte, stieß ich auf einen erwachsenen Penner, der da auf der Sitzbank lag, einen Rucksack neben sich. Sofort schoß mir da der Gedanke in den Kopf, ob das nicht unser Dozent sei - Theorie und Praxis höchst eindrucksvoll in sich vereinigend. Er wars nicht.

Warum mein Interesse am "Rucksack"?

So sehen Menschen aus, die zum "Höhlenforschen" gehen für ein einziges Wochenende. Sie haben einen stundenlangen Marsch durch praktisch wegloses Gelände, mitten durch eine Latschenwildnis, vor sich. Übernachten tun sie am weit offenen Eingang einer versteckten Höhle. Zum Biwakgepäck kommt dann noch das gesamte Forschungsmaterial: die eigene Höhlenaus- rüstung, manchmal 100e von Metern Seile, Spits, Steigeisen, Eispickel... Unter solchen Umständen ist man gezwungen, über die Sinnhaftigkeit des Mitttragens eines jeden einzelnen Stücks vorher nachzudenken, sonst schafft man es am Ende vielleicht nicht, sein Ziel zu erreichen. Gelegentlich sind wir sogar zweimal den gleichen langen Weg gegangen!

Dringt man tief in die Höhlen ein, dann ist es manchmal notwendig, um an die innersten Punkte zu kommen, dort, wo die Forschung manchmal noch in nie vom Menschen getretenes Gebiet führt, unterwegs zu biwakieren. Dann muß man wirklich alles, was fürs Überleben in dieser stockdunklen, wilden Unterwelt in den nächsten 100 Stunden oder vielleicht gar noch länger, notwendig ist, mitnehmen. Diese Welt dort unten verzeiht kaum einen Fehler. Hier kommt dann alles in ein oder zwei sogenannte "Schleifsäcke", die man mit sich führen muß - aber wie. Da baumelt man an dünnen Seilen in Abgründen, da zwängt man sich durch hautenge Felsspalten, wühlt sich durch flüssigen Lehm oder schwimmt durch schwarze Seen. Irgendwann erreicht man dann den Biwakplatz, ganz auch mit dem Bewußtsein, daß man das alles ja beim Rückweg wieder vor sich hat.


Gemessen an einer solchen Existenz ganz am Rande menschlicher Lebensmöglichkeiten, wo der Rucksack, der da "survival kit" ist, war auf der Tutzinger Tagung von ihm nur auf einem erheblich zivilisierteren, feineren Niveau, im Lichte von noblen, üppigen Deckenleuchten, einem inaktiven offenen Kamin und auf opulent, superbequemen Sesseln die Rede.

Das sah man alleine schon am "Rucksack" selber, der da wie ein Totem auf einem Stuhl in der Mitte saß, und von uns in den Mittelpunkt unserer Gespräche gerückt wurde. Er war ganz neu, völlig ungebraucht, vielleicht gar ein Geschenk der Akademie an den Dozenten? Später wurde das anders. Da wurden an ihm viele kleine Zettelchen von den Teilnehmern der Diskussionsgruppe angebracht, auf denen unsere Gedanken zu diesem Thema festgehalten waren. Dieses "Kultobjekt" wanderte dann am Sonntag morgen in den kreisförmigen Vortragssaal der Akademie, wo zuletzt die verschiedenen Gruppen ihre Ergebnisse präsentierten, und wo er sehr interessiert umwandert und beäugt wurde (insbesondere die Sprüche auf den Zetteln). 2 Bilder dieses Rucksacks werden bald hier zu sehen sein.

"reduce to the max" - schon dieses Motto ist in gewissem Sinne "geklaut", gab Thomas Diener zu. Es ist nämlich der Werbespruch in der Werbung für den SMART, dieses bislang nur wenig erfolgreiche Automodell aus dem Daimler / Chrysler-Stall. Thomas Diener hat in den letzten Jahren sein eigenes Leben so verändert, daß er nun ein scheinbar paradiesisches Leben zu führen scheint - weitgehend losgelöst von allem eigenen Materiellen. "practice what you preach". Es war zuhörenswert, wie da jemand Schritt für Schritt sich vom traditionellen Leben löst - von einer eigenen kleinen Firma mit einem "bureau" und einer 3-Zimmer-Wohnung zum modernen Nomaden, der keine eigene Wohnung mehr braucht, der den materiellen Besitz in einer "reduce to the max"-Party an die Freunde verscherbelt, die Firma reduziert hat auf Daten im Internet mit eigener Homepage unter dem Titel FairWork, über die er in Internetcafes verfügt usw.

Professor Wilhelm Schmid aus Berlin, inzwischen bekannt geworden durch das höchst lesenswerte Buch "Philosophie der Lebenskunst", brachte es in der Diskussion auf den Punkt: Bei der Frage nach den Gründen für ein solches Leben gibt es zwei besonders bemerkenswerte Aspekte, einen ganz modernen und einen sehr alten. Die moderne Technologie, z.B. das Internet und die Handys, eröffnen ganz ungeheure neue Perspektiven. Am Ende sitzt man im Baumhaus und verkauft am Laptop, der Satelitenverbindung hat, Aktien in Tokio... Das Leben aus dem Rucksack hat aber auch eine sehr alte Seite. Stichwort: Diogenes in der Tonne. Die Kyniker. Die beim Anblick eines Kindes, das aus der Hand trinkt, auch noch ihren einzigen Trinkbecher beiseite werfen.

Viele Gedanken löst so ein Lebensbeispiel aus, von den Pilgerreisen bis zur "DOWNSHIFTING". Abgesehen davon, daß jeder einzelne in seinem eigenen Leben da direkt was bewegen kann, kamen auch einen größeren Kreis betreffende Ideen zum Vorschein, z.B. eine "reduce to the max"-Party Anfang Dezember in einer Münchner Galerie in der Nähe des Rosenheimer Platzes zu veranstalten. Jeder bringt Sachen mit, die er "reduzieren" möchte, gibt sie her, ein anderer kann sie vielleicht brauchen. Ein bißchen heikel war dann die Frage, was eigentlich dann mit dem geschehen soll, was keiner mehr mitnehmen mag. Das Thema wurde nicht zu Ende gebracht, aber die Idee ist die Welt gesetzt.

Ich habe erklärt, daß ich eine Internetseite über "return to the max" machen werde, wo sich Interessierte über ein elektronisches Gästebuch melden können. Das ist ein erster kleiner Schritt, der gerne von anderen, die sich mit den modernen Möglichkeiten ja oft noch viel besser auskennen als ich, gerne weitergeführt und verbessert werden kann. Aber man sollte für mein Dafürhalten zumindest einen ersten Schritt machen. "Einen Stein ins Wasser werfen..." Ein schönes Bild, das Susanne Stockhammer auf der Tagung in ihrem Vortrag über "Kontinuität der Sorge und Versuche ökologischer Lebenskunst" uns gezeigt hat.

Wen das Thema auch interessiert, der konnte sich hier in ein Gästebuch eintragen. Das ist jetzt wieder gelöscht worden, weil sich nur eine Person dort tatsächlich eingetragen hat: Der Text:

Datum: 1999-10-24 17:59:28
Willi Adelung ( keine Email / keine Homepage) schrieb:

Als Gott den Rucksack erschaffen hatte, wußte er nicht so recht warum. Er nahm sich ein Stück Lehm, knetete und formte um ihn daran zu hängen, und weil der Lehm schon trocknete und staubte mußte unser Herrgott fürchterlich niesen und hauchte damit diesem Tonklotz versehentlich das Leben ein. Naja den Fortgang der Katastrophe kennen wir ja ??

Wie könnte sich die "Rucksack"-Idee fruchtbar weiterentwickeln? Wie könnte und sollte zum Beispiel diese Seite aussehen! Mit Hilfe der kleinen Hyperlinks läßt sich praktisch alles "anlinken", was man gerade für sinnvoll hält zum Beispiel. Oder auch wieder "ablinken". Es wäre toll, wenn sich da so ein Netzwerk aus "Rucksack-Links" entwickeln würde. Wo kann man zum Beispiel mit sehr geringem geldmäßigen Aufwand essen, trinken, schlafen? Das Internet benützen? Ohne es übertreiben zu wollen, keine Ausbeutung, auf freundschaftliche Weise. Auch kein "shareholder value", sondern "value management". Das, was da ist, sinnvoll nützen, ohne die Lebensgrundlagen innerhalb einer einzigen Generation für alle künftigen zu ruinieren, oder sich es kurz gut gehen lassen und dann für 70000 Jahre den Atommüll anderen zu hinterlassen.

Die modernste Variante: die Reisetaschen mit Weltreisende, oft auch noch mit Trageriemen für den Rücken, um sie für kurze Strecke auch noch selber befördern zu können

2015 vor einem Hotel in Shillong anläßlich der Höhlenexpediton Meghalaya 2015: die gesamte Ausrüstung für 2 Personen


Literatur:

Schwarz, Andrea Glück heißt: Leichter leben lernen, in: Möge das Glück dich begleiten - Worte, die durchs Leben tragen, HERDER Verlag, Sonderband 2005, herausgegeben von Sylvia Müller und Ulrich Sander, Freiburg 2005, S. 24ff.
Gros, Frédéric Unterwegs - Eine kleine Philosophie des Gehens, Riemann, München 2010

 


Typisch für den Umgang mit dem Internet sind die Verweise auf die Links. Das ist etwas, was der französische Philosoph Jacques Attali "Labyrinthieren" genannt hat. Vieles, vieles ist völlig nutzlos für den Wunsch nach dem Finden des Ausgangs aus dem Labyrinth. Das sind die Umwege und Sackgassen. Aber sie sind halt da, und, wie es Wilhelm Schmid so schön formuliert hat: "Fehlgehen ist reicher an Erfahrung." Jeder kann sich seine Labyrintherfahrung im Internet noch wesentlich vertiefen, in dem er den heute schon schier zahllosen Suchmaschinen z.B. auf dem Weg zum Stichwort "Rucksack" folgt.

Ein paar erste Anregungen und Gehversuche auf der Suche:

Links:


Sogar zu "return to the max" und jetzt in der modernen Form der "simplifiy-Idee" gibt es ein paar Links:


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