Franz Lindenmayr / Mensch und Höhle
"Höhlenstadt" Paris
Aus dem Louvre
"Die Idee, die in der Luft von Paris liegt, macht gewissermaßen unverderblich wie das Salz im Wasser des Ozeans. Paris einatmen erhält die Seele." Hugo, Les Miserables 14
"In Paris gibt es keine Häuser. Die Bewohner der Großstadt wohnen in übereinandergestellten Schachteln...Am Boden halten sich die Häuser fest mit Asphalt, damit sie nicht durchsinken in die Erde. Das Haus hat keine Wurzeln." Gaston Bachelard, Literatur..(Seltsam, das schreibt einer dauernd über Psychoanalyse und den Abstieg in die Tiefen der Seele...und hat keine Ahnung vom ...unterirdischen Paris...)
Das Wort "Höhlenstadt" hat einen ambigen Charakter. Oft wird es so verstanden, daß ganze Siedlungen unter der Erde angelegt sind, z.B. Derinkuyu in Kappadokien oder Petra in Jordanien. Dann kann aber auch damit gemeint sein, daß man mit einem speläologischen Interesse durch eine Stadt streift und seinen Fokus auf alle Erscheinungenformen von "Höhle" in einem begrenzten bebauten Raum richtet.
Ich mache das seit Jahrzehnten in Bezug auf München und die Ergebnisse sind u.a. auf meiner Webseite hier zu sehen. Es lohnt sich aber auch, eine solche Betrachtungsweise auch in anderen Städten anzuwenden und man wird oft erstaunliches entdecken. Im September 2021 war ich z.B. zum dritten Male in meinem Leben in Paris und auch da gibt es einiges zu entdecken.
Die Stadtfläche von Paris beträgt ca. 100 qkm auf 35 m Seehöhe und auf ihr leben mehrere Millionen Menschen.. "Die französische Hauptstadt ist eine der bedeutendsten Großstädte Europas und zählt zu den führenden Zentren für Kunst, Mode, Gastronomie und Kultur weltweit." WIKIPEDIA. Wahrzeichen: Eiffelturm, Notre-Dame, l'Arc de Triomphe. Eingebettet ist die Stadt in die "Agglomeration Paris", die über 12.000 qkm umfaßt mit einer Bevölkerung von 12 Millionen.
Als "capitale souterraine" hat Pierre Minvielle
Paris beschrieben. Es gibt nämlich neben dem Bauten auf der Erdoberfläche auch
ein riesiges Hohlraumsystem in mehreren Etagen darunter. Da ist die METRO, das
große unterirdische Verkehrssystem, die Versorgung mit Wasser, Gas und
Elektrizität, Telefondienstungen geschieht dort, die Entsorgung in den
Abwasserkanälen. Das Gestein unterhalb von Paris war als Baustoff sehr
geschätzt, der "Pierre de Paris" wurde in gewaltigen Steinbrüchen
abgebaut, boten vielen Menschen Arbeitsplätze, und hinterließen riesige
leere Kammern. Die Länge der Hohlräume wird auf über 100 km geschätzt.
Teilweise wurden sie auch wieder gefüllt, z.B. mit Menschenknochen. Viele Opfer
der Massaker im September 1792 wurden dort massenhaft bestattet. Heute werden
Führungen durch die Katakomben als Touristenattraktion angeboten: https://www.catacombes.paris.fr/die-katakomben-von-paris.
Von den örtlichen Höhlenforschern wurde das Gesamtsystem noch weiter erforscht
und im Jahre 1980 waren schon 300 km "Höhlenstrecken" erfaßt, wobei
man bereits unter der Erde bis ins Departement Val-de-Marne kam.
- Aus "Nadja" von André Breton: "Als der Nachtisch kommt, beginnt Nadja, um sich zu blicken. Sie ist sicher, daß unter unseren Füßen ein unterirdischer Gang verläuft, der , vom Palais de Justice kommend, um das Hotel Henri-IV führt. Beim Gedanken daran, was sich bereits auf disem Platz abgespielt hat und noch abspielen wird, ist ihr ganz mulmig zumute......Der Gedanke an den unterirdischen Gang läßt sie immer noch nicht los, vermutlich wähnt sie sich an einem seiner Ausgänge. Sie fragt sich, wer sie wohl gewesen sein könnte, im Gefolge Mari-Antoinettes.." S. 71ff.
Auch ein Höhlenfluß wurde erreicht, der 1975 von der Schwinde bis zur Quelle auf über 2 km eerkundet wurde, der rivière souterraine de Saint-Martin.
Die unterirdischen Kanäle von Paris boten die Möglichkeit, die frühesten Photoaufnahmen unter der Erde zu machen. Nadar unternahm 1860/61 den ersten Versuch. (Julian Barnes beschrieb ihn in äußerst anschaulicher Weise.)
Höhlen wurden immer wieder auch nachgebaut. Ein besonders
herausragendes Beispiel wurde 1864-1867 geschaffen. Unter
den Hügeln von Chaillot, die lange Zeit als Steinbruch gedient hatten und am
Rande der damaligen Müllkippe von Paris lag,, wurde durch Haussmann ein Restrukturierungsprojekt
in der Butte de Chaumont durchgeführt. 1000 Arbeiter, etwa 100 Pferde
und zwei Dampfmaschinen wurden eingesetzt. Erstmals kam das gerade erfundene
Dynamit zum Einsatz. 13 Bergstollen unterhalb des geplanten Sees stürzten ein
und hinterließen Senken. Eine Brücke am Eingang kam ins Rutschen und mußte
ersetzt werden. Gegen die schnell einsetzende Erosion wurden als Felsen
kaschierte Mauern errichtet. Der Park galt als Meisterwerk der industrialen
Ästhetik, als Beispiel den Prozeß der "Verstädterung der Natur".
Unter anderem eine gewaltige Grotte in einen ehemaligen Steinbruch gebaut. 8 m lange Stalaktiten
hängen von der Decke und ein 32 m hoher Wasserfall belebt das ganze Ensemble.
Der Betrieb benötigt pro Tag 3,5 Millionen Liter Wasser, so viel wie eine
größere Kleinstadt. Ein eigener Kanal wurde dafür vom Canal de l'Ourcq mit
ener Länge von 1 km gebaut. Zur Befestigung der Anlage wurde als Innovation
erstmals Stahlbeton (beton armé) eingesetzt, der 1867 vom Pariser Gärtner
Joseph Monier patentiert wurde, und von dort seinen Siegeszug in alle Welt und
in alle Zukunft begann. Zwischen 1890 bis 1940 wurde der Grotte auch
Tanzveranstaltungen mit großem Orchester genutzt, wobei man die Grotte auch
noch beleuchtete.
Bei den Weltausstellungen 1867 (im Keller des Seewasseraquariums auf dem Champ de Mars) und 1878 (Süßwasseraquarium nach den Plänen des Malers Bétencourt) wurden jeweils große Grottenanlagen errichtet. Ludwig II besuchte 1867 diesen Ort und darf vermutet werden, daß der Bau der Grotte in Linderhof danut t zusammenhängt.
Um 1905 begann Armand Viré, ein unterirdisches Laboratorium im Kellergeschoß des Museum d'histoire naturelle einzurichten. Dort sollten die Lebensbedingungen der Höhlenkrebse erforscht werden. Mit dem Hochwasser der Seine im Jahre 1910 wurde alles überflutet und endete das Experiment.
Eine Stadt wie Paris hat natärlich auch einen großen Höhlenverein, den Spéléo-Club de Paris. > http://www.speleoclubparis.fr/
Besonders spannend sind die vielen oft kleinen Hinweise auf das Phänomen "Höhle" in der großen Sammlungen und Museen der Städte. Ein paar wenige Beispiele aus Paris:
Louvre |
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Auf dem Gemälde ist auch ein Berg mit einer großen Höhlenöffnung zu sehen, in der eine Art mit rotem Tuch bedecktem Tisch steht, auf dem ein goldfarbenes Kissen liegt. |
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Auf dem Gemälde sind auch zwei Berge zu sehen mit Höhlenöffnungen. | |
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Zwei Männer, einer fast unbekleidet, nur mit rotem Tuch um die Hüften, der andere in einen Kapuzenmantel, tragen die tote Frau im weißen Kleid gerade in einen Höhlenraum. | |
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Im Hintergrund ist der Dent de Crolles in der Grand
Chartreuse zu sehen - eines der bedeutendsten Karst- und Höhlengebiete
Frankreichs
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musée d'Orsay |
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Eine in ein Fell gekleidete Frau mit 2 kleinen Kindern bei sich und einer einfachen Axt in der Hand blickt nach hinten, wo ihr eine Bärin folgt. Die Szene spielt in einer dunklen Höhle mit einem schlitzförmigen Portal im Hintergrund. |
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2 Frauen entdecken den unbekleideten Leichnam Don Juans. Die Szene spielt sich an einer Felsküste ab, die von Höhleneingängen und Naturbrücken geprägt ist. Stil: Symbolismus | |
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Nur wenn man Körperhöhlen zum Thema "Höhle"
gehörig betrachtet, dann gehört dieser Klassiker des Genres hierher. Das
Gemälde war nie für die Öffentlichkeit gedacht und hängt heute doch an
prominenter würdigen Stelle.. > Gustave Courbet Stil Naturalismus |
Es gibt immer wieder Überraschungen, wenn man der "Höhle" im Stadtbild folgt. Oft sind sie nur für kurze Zeit sichtbar und verschwinden so auch gleich wieder. Und doch...auch sie verdienen Aufmerksamkeit.
September 2021 | Im Schaufenster eines großen Schreibwarengeschäftes, das auch noch eine größere Postfiliale birgt, hing im Schaufenster ein Plakat, das auf die im Juli erschienene Ausgabe einer Briefmarke "La Spéléologie" aufmerksam machte. |
Paris nur aus der "Höhlenperspektive" zu sehen, was für ein Sakrileg! So eine Weltstadt!
Literatur:
Bachelard, Gaston: Literatur als Kunst, Hanser Verlag, München 1960
Barnes, Julian (2014): Levels of Life, London
Breton, André (1928/2002): Nadja, Bibliothek Suhrkamp
Centelles, Ruben (2010): Les phénomes karstiques cu centre du Bassin parisien, in: Audra, Philippe, responsable d'édition, Grottes & karsts de France, KARSTOLOGIA Mémoires 2010, Nr. 19, S.148ff.
Chabert, Claude (1981): Les grandes cavités francaises, FFS
Hugo, Victor (1999): Les Miserables/Die Elenden, Verlag Volk&Welt, Berlin
Macfarlane, Robert (2019): Underland - A Deep Time Journey, Penguion Random House /(Invisible Cities, S. 127-174)
Minvielle, Pierre (1970): Guide de la France souterraine, Les Guides Noirs, Tchou, Éditeur
Pellegri, Olivier (1994): Le Clue de Montfaucon... En plein coeur de Paris! Spelunca n°54 pages 27 à 28
Quantin-Biancalani, Stéphanie (2019): Plastiker, "Rocailleur" oder Konstrukteur? Der Landschaftsplastikeer August Dirigl als Mittleer zwischen Paris und Linderhof, S. 93 ff., in: Die Venusgrotte im Schloss Linderhof - Illusionskunst und High Tech im 19. Jahrhundert, Internationale Fachtagung des Deutschen Nationalkomitees von ICOMOS in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, München, 11. bis 13. Oktober 2017, 1. Auflage 2019 ICOMOS, Nationalkomitee der Bundesrepublik Deutschland und Landesdenkmalamt Berlin
Rodet, Joel (2010): Les karsts du Bassin de Paris, in: Audra, Philippe, responsable d'édition, Grottes & karsts de France, KARSTOLOGIA Mémoires 2010, Nr. 19, S.148ff.
Thomas, Gilles (2022): Il ya 120 ans exista sous Paris une grotte pédagogique... mais fantasmée: Padiriac! Spelunca, 167, 2022, p 40ff.
Links:
https://www.catacombes.paris.fr/die-katakomben-von-paris
http://www.speleoclubparis.fr/
https://www.routard.com/photos/paris/1499366-la_grotte_du_jardin_des_buttes_chaumont.htm
https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/gipshoehlen-des-montmartre-in-paris
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