Franz Lindenmayr / Mensch und Höhle

Das Motiv "Höhle/Loch" in den Werken von Kurt Tucholsky


Mit Hilfe der modernen Technik ist ein heute viel leichter, einen Überblick über das Vorkommen bestimmter Themen im Werk von Künstlern zu bekommen. Diesmal sei dies am Beispiel von Kurt Tucholsky unternommen.

Biographische Daten:

1890, 9. Januar Geburt in Berlin, stammt aus Kaufmannsfamilie
1909 Jurastudium in Berlin und Genf
1911 Beiträge und Gedichte für den "Vorwärts", das Zentralorgan der SPD
1912 "Rheinsberg - ein Bilderbuch für Verliebte" erscheint
1927 "Ein Pyrenäenbuch" erscheint
1929 "Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch" mit vielen Fotografien, montiert von John Heartfield erscheint
Emigration nach Schweden
1931 "Schloss Gripsholm", ein Roman, erscheint
1933 Tucholskys Bücher werden nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verbrannt. Er wird aus Deutschland ausgebürgert
1935 Tod in Hindas (Schweden) nach Übermedikatisierung mit einem Schlafmittel

Das klassische "Lochzitat" aus seiner bahnbrechenden Arbeit über "Löcher": "Das Loch ist da, wo etwas nicht ist." https://www.textlog.de/tucholsky/glossen-essays/zur-soziologischen-psychologie-der-loecher

> Lochikon

Damit ist er gleich im Widerspruch zur klassischen Philosophie etwa eines Parmenides: Sein ist, Nichtsein ist nicht. Gibt es sie dann also gar nicht, die Löcher? 

Höhlenzitate:

"So lange habe ich da herumgestanden, daß ich schnellen Schrittes gehen mußte, um nach Gargas zu kommen. Zur Höhle von Gargas. Nun, es ist eine Höhle wie andre auch.
Aber der Neue Pitaval kennt den Ort, und auch ich kannte ihn: Blaize Ferrage, der Menschenfresser, hat da gewohnt. Das war ein kleiner, übermenschlich starker Bursche, ein Maurer, der sich 1779 vom Leben der Menschen losgelöst hatte und einsam in dieser Höhle wohnte. Sie war wohl damals nicht so zugänglich wie heute – er hauste da, ganz für sich, stahl ab und zu, was er sich allein nicht herstellen konnte, und fraß Menschen. Er stieg wahrhaftig in den Bergen umher, und wenn ihm junge Frauen in die Hände fielen, schlachtete er sie. Männer fraß er nur, wenn er Hunger hatte – Kinder mochte er besonders gern.
Die Gegend flammte in Entsetzen. Schließlich fingen sie ihn – sie hatten ihm einen Sträfling heraufgeschickt, der sich die Begnadigung verdienen wollte, mit dem schloß er Freundschaft; der Freund verriet ihn. Am 13. Dezember 1782 wurde er gerädert.
Und nun werde ich ja wohl vom Reichsverband Deutscher Menschenfresser einen Prozeß angehängt bekommen: wegen Berufsstörung."
Unter anderm in den Pyrenäen

"In den Indianerbüchern steht immer etwas von dem Gefangenen, der sich, in einer Höhle auf Stroh und Lumpen, gefesselt, wälzt. Aber ich muß sagen: dieses hier war viel schlimmer. Denn doppelt rührend und doppelt ergreifend wirkt in diesem entsetzlichen Elend das Bestreben dieser kümmerlichen Armut, doch immer noch in all dem Jammer so etwas wie Ordnung oder gar Behaglichkeit herzustellen. Natürlich geht es nicht. Und es kann nicht gehen, weil nichts mehr da ist: keine Wäsche, keine Möbel, keine Beleuchtung und keine Heizung." Die Kinderhölle in Berlin
"Wenn ein jüngerer Mann, etwa von dreiundzwanzig Jahren, an einer verlassenen Straßenecke am Boden liegt, stöhnend, weil er mit einem tödlichen Gas ringt, das eine Fliegerbombe in der Stadt verbreitet hat, er keucht, die Augen sind aus ihren Höhlen getreten, im Munde verspürt er einen widerwärtigen Geschmack, und in seinen Lungen sticht es, es ist, wie wenn er unter Wasser atmen sollte –: dann wird dieser junge Mensch mit einem verzweifelten Blick an den Häusern hinauf, zum Himmel empor, fragen." Die brennende Lampe
"Eine Viertelminute später ist die Kehle durchschnitten, das Blut kocht heraus. Man sieht in eine dunkle, rote Höhle, in den Ochsen hinein, aus dem Hohlen kommt das Blut herausgeschossen, es kollert wie ein Strudel, der Kopf des Ochsen sieht von der Seite her zu. Dann wird er gehäutet. Der nächste." Mit 5 PS
Denn mit etwas hat Gott sie schön angeschmiert:
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mit ihren Frauen.
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„Mein Mann, mein Mann!“
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Dergleichen blamiert:
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ein Weibstück, scheeläugig und verschmiert,
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in den himmlischen Gauen.
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Der sitzt in der Höhle, ein krötiger Greis,
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der spricht nur von sich, weil er sonst nichts weiß …
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Von weitem! Laß sie am Himmel brennen!
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In Büchern und an Rundfunkantennen …
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Aber: Du mußt sie nicht kennen! Du mußt sie nicht kennen!

 

Bei näherer Bekanntschaft
"Da fahren wir nun in eine Grotte am Wasser – es ist eine kleine, kümmerliche Höhlung im Stein, das Boot schaukelt zwischen den Felswänden. Hinten brummt dumpf das Wasser – es hört sich an, wenn es im Fels rollt, als ob er einstürzen wollte.
Und mit meinen Händen befühle ich noch einmal, zum letztenmal, den nassen Stein, den Berg in den Pyrenäen. Durch die Erde sehe ich hindurch bis zum andern Ende, bis zum Ozean, nach Hendaye und Bayonne. Höhlen liegen dazwischen – unten in Bétharram stand, fünfzig Meter tief unter der Erde, ein Grenzstein mit zwei Tafeln:
Basses-Pyrénées/Hautes-Pyrénées.

Es ist die Departements-Grenze. Ordnung muß sein.
Wann wieder, Berge –?
Die Fischer stoßen ab, sie rudern noch ein bißchen um das Kap herum – in die offne See ... Und dann sind wir in dem kleinen Häfchen von Cébère. Oben laufen die Zollbeamten auf dem Bahnsteig auf und ab und befühlen die Koffer – und die Gendarmen prüfen die Pässe und tun recht geschäftig und staatserhaltend. Der Zug pustet Rauch aus."

Abschied von den Pyrenäen


"...Im Schatten liegen Gletscherspalten
dumpf, finster und unnahbar da.
Man friert im Mark. In jene kalten
und frostigen Höhlen niemand sah."
Frühling im Hochgebirge
"Ich drücke mich zur Grotte hindurch.
Es ist eine kleine Felsgrotte, ein paar Meter tief, mit einem schmiedeeisernen Gitter. ›Entrée‹ und ›Sortie‹ steht daran, auf blauen Emailschildern in weißer Schrift; einen Augenblick lang zieht ein Straßenschild an meinem Auge vorüber … Seitlich an der Grotte steht eine Kanzel, auf ihr ein Geistlicher im Ornat, der die Betenden ermahnt, tröstet, anfeuert. Seine Worte hallen über die Köpfe hinweg und zerflattern in der Luft. Es ist sehr schwer, im Freien zu predigen … Langsam, unendlich langsam schiebt sich die Menge an der Kanzel vorbei, in die Grotte. Alle halten Kerzen in den Händen, und da flammt ein großer Lichtständer, das Stearin tropft und bildet merkwürdige Figuren. Zwei Meter vom Boden entfernt, in einer Höhlung oben in den Steinen, steht sie: Notre-Dame de Lourdes, Our Lady of Lourdes, Onze Lieve Vrouw van Lourdes, Gospa od Lourda, Nuestra Señora de Lourdes, Miesac Mary i Lourdes, Nossa Senhora de Lourdes – die Jungfrau Marie. Hier ist sie dem kleinen Bauernmädchen aus Lourdes zum erstenmal erschienen und hat Quelle und Heilung vorausgesagt. Vor ihr bekreuzigen sich alle, dann küssen sie den Stein, auf dem sie steht, der Stein ist glatt und speckig von den vielen Händen, die ihn gestreichelt haben. Ich denke an die verzückte, rasche Gebärde, mit der unter der Erde, in den Grotten von Bétharram, in der Nähe von Lourdes, eine Frau jenen Stalaktiten anfaßte, von dem es hieß, er bringe Glück. Sie sprang auf ihn zu, um keinen Augenblick zu versäumen. Nun preßt die Menschenmauer nach vorn. Ein Altar ist aufgerichtet, da brennen die Kerzen, fortwährend klappert Geld in die Kästen, und die Erde ist bedeckt mit Briefen, Kupfermünzen, Bildern, Blumen, Glasperlen, Weihgeschenken. Langsam, langsam werden wir wieder hinausgedrückt. Am Ausgang hängen alte Krücken, die haben die Geheilten aufgehängt, und ein Gipskorsett ist auch dabei.
Vor der Grotte, in Wagen und Bahren: die Kranken. Sie sitzen und liegen da, die Augen zum Himmel aufgerichtet, die Träger, die sie umgeben, beten – die Verwandten beten, manche sind halb bewußtlos und haben die Augen geschlossen und fiebern. Sie halten Rosenkränze in den Fingern. Viele singen."
 
Ein Pyrenäenbuch

Lourdes

2. Tag

Lourdes

"....Die Grotte gesperrt? Streik der Bauarbeiter, Rumor unter den Bauern, die Grotte mußte wieder geöffnet werden. Bis zum Kaiser drang der Lärm, denn nun war aus den Halluzinationen eines kranken Kindes eine hochpolitische Affäre geworden. Kulturkampf? Napoleon III. tat das, was er immer getan hatte: er zögerte. Aber die Kaiserin lag ihm in den Ohren, es war das wohl auch kein casus belli, die innre Politik erheischte Frieden... Er gab nach. Der Polizeikommissar wurde versetzt, der Präfekt von Tarbes wurde versetzt – das Land hatte sein Wunder. Die Prozesse prasselten. Die ersten Heilungen wurden ausgerufen." Unter anderem in den Pyrenäen
"...Und ich begriff gar nicht, wie diese Frauen jemals auf den Gedanken verfallen konnten, ihre schöne Arbeit aufzugeben und Anstellung in unseren Betrieben zu suchen. Hatten diese nicht alles, was ihr Herz begehrte? Eine geachtete ehrliche Arbeit? Und zehn Stunden dazu? Und einen Wochenlohn von achtzehn Mark fünfzig?
Ich hielt erst vor der „Blauen Grotte“, dem größten meiner Häuser, das grade in vollem Betrieb war. Und voyeurte durch die Gucklöcher.
Da lagen sie...."
Mit 5 PS

 


Literatur:

Tucholsky, Kurt ( ): Das Pyrenäenbuch, Auswahl 1920 bis 1923 / Kurt Tucholsky, Berlin : Volk und Welt, 1984

Links:

https://www.dhm.de/lemo/biografie/kurt-tucholsky

https://www.projekt-gutenberg.org/tucholsk/unterand/chap79.html

https://www.textlog.de/tucholsky/glossen-essays/die-kinderhoelle-in-berlin

https://www.tha.de/~harsch/germanica/Chronologie/20Jh/Tucholsky/tuc_l029.html

https://de.wikisource.org/wiki/Seite:Tucholsky_Mit_5_PS_151.jpg

https://www.abipur.de/gedichte/analyse/602-bei-naeherer-bekanntschaft-tucholsky.html

https://www.projekt-gutenberg.org/tucholsk/unterand/chap85.html

https://www.verbrannte-buecher.de/bibliothek/source-18

http://www.deutsche-liebeslyrik.de/tucholsky.htm

https://www.textlog.de/tucholsky/erzaehlungen-prosa/ii-ein-tag

https://www.projekt-gutenberg.org/tucholsk/unterand/chap70.html

https://de.wikisource.org/wiki/Seite:Tucholsky_Mit_5_PS_274.jpg

https://www.textlog.de/tucholsky/glossen-essays/zur-soziologischen-psychologie-der-loecher

Das Thema "Höhle" in der Werken von Schriftstellern


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